Monistische Studien über das ethische Grundgesetz. Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Gleichbereichtigung des Egoismus und Altruismus. Fehler der christlichen Moral. Staat, Schule und Kirche.
------
Inhalt: Monistische und dualistische Ethik. Widerspruch der reinen und praktischen Vernunft bei Kant. Sein kategorischer Imperativ. Die Neokantianer. Herbert Spencer. Egoismus und Altruismus (Selbstliebe und Nächstenliebe). Aequivalenz beider Naturtriebe. Das ethische Grundgesetz; die Goldene Regel. Alter derselben. Christliche Sittenlehre. Verachtung des Individuums, des Leibes, der Natur, der Kultur, der Familie, der Frau. Papistische Moral. Unsittliche Folgen des Cölibats. Nothwendigkeit der Abschaffung des Cölibat, Ohrenbeichte und Ablaßkram. Staat und Kirche. Religion ist Privatsache. Kirche und Schule. Staat und Schule. Nothwendigkeit der Schulreform.
Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn sie in reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen. Diesem Grundsatze unserer monistischen Philosophie zu Folge muß unsere gesammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des "Kosmos" stehen, welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntniß der Natur-Gesetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Universum im Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen Theil dieses "Kosmos", und so kann auch unsere naturgemäße Ordnung desselben nur eine einheitliche sein. Es giebt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine physische, materielle und eine moralische, immaterielle Welt.
Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel Kant, daß die sittliche Welt von der physischen ganz unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also müsse auch das sittliche Bewußtsein des Menschen, als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Welterkenntniß sein und sich vielmehr auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntniß der sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische Vernunft geschehen, hingegen diejenige der Natur oder der physischen Welt durch die reine theoretische Vernunft. Dieser unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's Philosphie war ihre größter und schwerster Fehler; er hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute mächtig fort. Zuerst hat der kritische Kant den großartigen und bewunderungswürdigen Palast der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Metaphysik: der persönliche Gott, der freie Wille und die unsterbliche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja daß vernünftige Beweise für deren Realität gar nicht zu finden sind. Später aber baute der dogmatische Kant an diesen realen Krystall-Palast der reinen Vernunft das schimmernde ideale Luftschloß der praktischen Vernunft an, in welchem drei imposante Kirchenschiffe zur Wohnstätte jener drei gewaltigen mystischen Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vorderthür mittelst des vernünftigen Wissens hinausgeschafft wurden, kehrten sie nun durch die Hinterthür mittelst des unvernünftigen Glaubens wieder zurück.
Die Kuppel seines großen Glaubens-Domes krönte Kant mit einem seltsamen Idol, dem brühmten kategorischen Imperativ; danach ist die Forderung des allgemeinen Sittengesetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rücksicht und Wirklichkeit und Möglichkeit; sie lautet; "Handle jederzeit so, daß die Maxime (oder der subjektive Grundsatz deines Willens) zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Jeder normale Mensch sollte demnach dasselbe Pflichtgefühl haben wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat diesen schönene Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, daß unter den Natur-Völkern die Pflichten noch weit verschiedener sind als unter den Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als verwerfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen (Diebstahl, Betrug, Mord, Ehebruch u. s. w.), gelten bei anderen Völkern unter Umständen als Tugenden oder selbst als Pflichtgebote.
Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Vernünfte von Kant, der principielle Antagonismus der reinen und der praktischen Vernunft, schon im Anfange des 19. Jahrhunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neokantianer predigt noch heute den "Rückgang auf Kant" so eindringlich gerade wegen dieses willkommenen Dualismus, und die streitende Kirche unterstützt sie dabei auf's Wärmste, weil ihr eigener mystischer Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirksame Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Voraussetzungen der praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Die monistische Kosmologie bewies auf Grund des Substanz-Gesetzes, daß es keinen "persönlichen Gott" giebt; die vergleichende und genetische Psychologie zeigte, daß eine "unsterbliche Seele" nicht existiren kann, und die monistische Physiologie wies nach, daß die Annahme des "freien Willens" auf Täuschung beruht. Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die "ewigen, ehernen Naturgesetze" der anorganischen Welt auch in der organischen und moralischen Welt Geltung haben.
Unsere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die praktische Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den Kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv, indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen Monismus setzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des Menschen nicht auf einem illusorischen "kategorischen Imperativ" beruht, sondern auf dem realen Boden der socialen Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Thieren finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor allen Anderen war es der große englische Philosoph Herbert Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik durch die Entwickelungslehre verdanken.
I. Die Selbst-Verachtung des Christenthums. Als obersten und wichtigsten Mißgriff der christlichen Ethik, welcher die Goldene Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Uebertreibung der Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten. Das Christenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im Princip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut unentbehrlich; ja man kann sagen, daß auch der Altruismus, sein scheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus ist. Nichts Großes, nichts Erhabeneres ist jemals ohne Egoismus geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns in frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz (Matthäus 5, 44): "Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen." Dieses Gebot ist sehr ideal, aber praktisch von sehr bedenklichem Werthe. Ebenso verhält es sich mit der Anweisung: "Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den Mantel"; d. h. in das moderne Leben übersetzt: "Wenn dich ein gewissenloser Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt, dann schenke ihm auch noch die anderen Hälfte" - oder in die politische Praxis übertragen: "Wenn euch einfältigen Deutschen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann schenkt ihnen auch noch die übrigen Kolonien - oder am besten: gebt ihnen Deutschland auch noch dazu!" Da wir hier gerade die vielbewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren, in welchem schneidenden Widerspruch dieselbe zu allen Grundlehren der christlichen Liebe steht, welche von dieser großen Nation mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Uebrigens ist ja der offenkundige Widerspruch zwischen der empfohlenen idealen, altruistischen Moral des einzelnen Menschen und der realen, rein egoistischen Moral der menschlichen Gemeinden, und besonders der christlichen Kultur-Staaten, eine allbekannte Thatsache. Es wäre interessant, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menschen das altruistische Sitten-Ideal der einzelnen Person sich in sein Gegentheil verwandelt, in die rein egoistische "Real-Politik" der Staaten und Nationen.
II. Die Leibes-Verachtung des Christenthums. Da der christliche Glaube den Organismus des Menschen ganz dualistisch beurtheilt und der unsterblichen Seele nur einen vorübergehenden Aufenthalt im sterblichen Leibe anweist, ist es ganz natürlich, daß der ersteren ein viel höherer Werth beigemessen wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachlässigung der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben des christlichen Mittelalters sehr unvortheilhaft vor demjenigen des heidnischen klassischen Alterthums auszeichnet. In der christlichen Sittenlehre fehlen jene strengen Gebote der täglichen Waschungen und der sorgfältigen Körperpflege, die wir in der mohammedanischen, der indischen und anderen Religionen nicht nur theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch ausgeführt sehen. Das Ideal des frommen Christen ist in vielen Klöstern der Mensch, der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet, der seine übel riechende Kutte niemals wechselt, und der statt ordentlicher Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Betübungen, sinnlosem Fasten u. s. w. zubringt. Als Auswüchse dieser Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Bußübungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden.
III. Die Natur-Verachtung des Christenthums. Eine Quelle von unzähligen theoretischen Irrthümern und praktischen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen liegt in dem falschen Anthropismus des Christenthums, in der exklusiven Stellung, welche dasselbe dem Menschen als "Ebenbild Gottes" anweist, im Gegensatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat dasselbe nicht allein zu einer höchst schädlichen Entfremdung von unserer herrlichen Mutter "Natur" beigetragen, sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen Organismen. Das Christenthum kennt nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid mit den nächststehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden, Pferden, Rindern u s. w.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitestverbreiteten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholischen Süd-Europa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener abscheulichen Thierquälereien gewesen, die uns Thierfreunden sowohl das tiefste Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und wenn er dann jenen rohen "Christen" Vorwürfe über ihre Grausamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: "Ja, die Thiere sind doch keine Christen!" Leider wurde dieser Irrthum auch durch Descartes befestigt, der nur dem Menschen eine fühlende Seele zuschrieb, nicht aber den Thieren. Wie erhaben steht in dieser Beziehung unsere monistische Ethik über der christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugethiere abstammen, und daß diese "unsere Brüder" sind; die Physiologie beweist uns, daß diese Thiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir, daß sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wir wir. Kein mitfühlender, monistische Naturforscher wird sich jemals jener rohen Mißhandlung der Thiere schuldig machen, die der gläubige Christ in seinem anthropistischen Größenwahn - als "Kind des Gottes der Liebe!" - gedankenlos begeht. - Außerdem aber entzieht die principielle Natur-Verachtung des Christenthums dem Menschen eine Fülle der edelsten irdischen Freuden, vor Allem den herrlichen, wahrhaft erhebenden Naturgenuß.
IV. Die Kultur-Verachtung des Christenthums. Da nach Christi Lehre unsere Erde ein Jammerthal ist, unser irdisches Leben werthlos und nur eine Vorbereitung auf das "ewige Leben" im besseren Jenseits, so verlangt sie folgerichtig, daß demgemäß der Mensch auf alles Glück im Diesseits zu verzichten und alle dazu erforderlichen irdischen Güter gering zu achten hat. Zu diesen "irdischen Gütern" gehören aber für den modernen Kulturmenschen die unzähligen kleinen und großen Hilfsmittel der Technik, der Hygiene, des Verkehrs, welche unser heutiges Kulturleben angenehm und gemüthlich gestalten; - zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle die höhen Genüsse der bildenden Kunst, der Tonkunst, der Poesie, welche schon während des christlichen Mittelalters (und trotz seiner Principien!) sich zu hoher Blüte entwickelten, und welche wir als "ideale Güter" hochschätzen; - zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle jene unschätzbaren Fortschritte der Wissenschaft und vor Allem die Naturerkenntniß, auf deren ungeahnte Entwickelung unser 19. Jahrhundert in der That stolz sein kann. Alle diese "irdischen Güter" der verfeinerten Kultur, welche nach unserer monistischen Weltanschauung den höchsten Werth besitzen, sind nach der christlichen Lehre werthlos, ja großentheils verwerflich, und die strenge christliche Moral muß das Streben nach diesen Gütern ebenso mißbilligen, wie unsere humanistische Ethik dasselbe billigt und empfiehlt. Das Christenthum zeigt sich also auch auf diesem praktischen Gebiete kulturfeindlich; der Kampf, welchen die moderne Bildung und Wissenschaft dagegen zu führen gezwungen sind, ist auch in diesem sinne "Kulturkampf".
V. Die Familien-Verachtung des Christenthums. Zu den bedauerlichsten Seiten der christlichen Moral gehört die Geringschätzung, welche dasselbe gegen das Familien-Leben besitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zusammenleben mit den nächsten Blutsverwandten, welches für den normalen Menschen ebenso unentbehrlich ist wie für alle höheren socialen Thiere. Die "Familie" gilt uns ja mit Recht als die "Grundlage der Gesellschaft" und das gesunde Familien-Leben als Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Ansicht war Christus, dessen nach dem "Jenseits" gerichteter Blick die Frau und die Familie ebenso gering schätzte wie alle anderen Güter des "Diesseits". von den seltenen Berührungen mit seinen Eltern und Geschwistern wissen die Evangelien nur sehr wenig zu erzählen; das Verhältniß zu seiner Mutter Maria war danach keineswegs so zart und innig, wie es uns Tausende von schönen Bildern in poetischer Verklärung vorführen; er selbst war nicht verheiratet. Die Geschlechts-Liebe, die doch die erste Grundlage der Familien-Bildung ist, erschien Jesus eher wie ein nothwendiges Uebel. Noch weiter ging darin sein eifrigster Apostel, Paulus, der es für besser erklärte, nicht zu heirathen, als zu heirathen. "Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre" (1. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menschheit diesen guten Rath befolgte, würde sie damit allerdings bald alles irdische Leid und Elend loswerden; sie würde durch diese Radikal-Kur innerhalb eines Jahrhunderts aussterben.
VI. Die Frauen-Verachtung des Christenthums. Da Christus selbst die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm persönlich jene feine Veredelung des wahren Menschenwesens fremd, welche erst aus dem innigen Zusammenleben des Mannes mit dem Weibe entsprint. Der intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des Menschengeschlechts beruht, ist dafür ebenso wichtig wie die geistige gegenseitige Ergänzung, die sich Beide in gleicher Weise in den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in den höchsten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn Mann und Weib sind zwei verschiedene, aber gleichwertige Organismen, jeder mit seinen eigenthümlichen Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Werth der sexuellen Liebe erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die herrlichsten Blüthen der Poesie und der Kunst entsprossen sind. Christus dagegen lag diese Anschauung ebenso fern wie fast dem ganzen Altherthum; er theilte die allgemein herrschende Anschauung des Orients, daß das Weib dem Manne untergeordnet und der Verkehr mit ihm "unrein" sei. Die beleidigte Natur hat sich für diese Mißachtung furchtbar gerächt, und die traurigsten Folgen derselben sind namentlich in der Kulturgeschichte des papistischen Mittelalters mit blutiger Schrift verzeichnet. (Vergl. Albrecht Rau, Die Ethik Jesu. Gießen 1900.)
Der moderne Kulturstaat, der nicht bloß das praktische, sondern auch das moralische Volksleben auf eine höhere Stufe heben soll, hat das Recht und die Pflicht, solche unwürdige und gemeinschädliche Zustände aufzuheben. Das "obligatorische Cölibat" der katholischen Geistlichen ist ebenso verderblich und unsittlich wie die Ohrenbeichte und der Ablaßkram; alle drei Einrichtungen haben mit dem ursprünglichen Christenthum Nichts zu thun; alle drei schlagen der reinen Christen-Moral in's Gesicht; alle drei sind nichtswürdige Erfindungen des Papismus, darauf berechnet, die absolute Herrschaft aufrecht zu erhalten und sie nach Kräften materiell auszubeuten.
Die Nemesis der Geschichte wird früher oder später über den römischen Papismus ein furchtbares Strafgericht halten, und die Millionen Menschen, die durch diese entartete Religion um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen ihr im zwanzigsten Jahrhundert den Todesstoß zu versetzen - wenigstens in den wahren "Kulturstaaten". Man hat neuerdings berechnet, daß die Zahl der Menschen, welche durch die papistischen Ketzer-Verfolgungen, die Inquisition, die christlichen Glaubenskriege u. s. w. um's Leben kamen über zehn Millionen beträgt. Aber was bedeutet diese Zahl gegen die zehnfach größere Zahl der Unglücklichen, welche den Satzungen und der Priesterherrschaft der entarteten christlichen Kirche moralisch zum Opfer fielen? - gegen die Unzahl derjenigen, deren höheres Geistesleben durch sie getödtet, deren naives Gewissen gequält, deren Familienleben vernichtet wurde? Hier gilt das wahre Wort aus Goethe's herrlichem Gedichte "Die Braut von Korinth":
"Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört!"
Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren Beruf, Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzigsten Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des selbstständigen Denkens verfolgen, das klare Verständniß der erworbenen Kenntnisse und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen. Wenn der moderne Kulturstaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugesteht, muß er ihm auch die Mittelgewähren, durch gute Schulbildung seinen Verstand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten eine vernünftige Anwendung zu machen.