Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber Drittes Kapitel.

Unser Leben.

Monistische Studien über menschliche und vergleichende Physiologie. Uebereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen und der Säugethiere.

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Inhalt: Entwickelung der Physiologie im Alterthum und Mittelalter. Galenus. Experiment und Vivisektion. Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey. Lebenskraft (Vitalismus): Haller. Teleologische und vitalistische Auffassung des Lebens. Mechanistische und monistische Beurtheilung der physiologischen Prozesse. Vergleichende Physiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller. Cellular-Physiologie: Max Verworn. Cellular-Pathologie: Virchow. Säugethier-Physiologie. Uebereinstimmung aller Lebensthätigkeiten beim Menschen und Affen.

Unsere Kenntniß vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbstständigen, wirklichen Wissenschaft erhoben; sie hat sich erst innerhalb desselben zu einem der vornehmsten, interessantesten und wichtigsten Wissenzweige entwickelt. Diese "Lehre von den Lebensthätigkeiten", die Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünschenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer als diese letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel größere Schwierigkeiten stieß.

Der Begriff des Lebens, als Gegensatz zum Tode, ist natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens gewesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den "todten" Naturkörpern fehlten: selbstständige Ortsbewegung, Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. s. w. Allein die Unterscheidung solcher "organischen Bewegungen" von ähnlichen Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich, daß der naive Naturmensch auch diesen "todten Körpern" ein selbstständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen konnte man sich ja bei den letzteren ebenso wenig befriedigende Rechenschaft geben als bei den ersteren.

Menschliche Physiologie.

Die ältesten wissenschaftlichen Betrachtungen über das Wesen der menschlichen Lebensthätigkeiten treffen wir (ebenso wie diejenigen über den Körperbau des Menschen) bei den griechischen Naturphilosophen an Aerzten im sechsten und fünften Jahrhundert vor Chr. Die reichste Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Thatsachen finden wir in der Naturgeschichte des Aristoteles; ein großer Theil seiner Angaben rührt wahrscheinlich schon von Demokritos und Hippokrates her. Die Schule des Letzteren stellte auch bereits Erklärungs-Versuche an; sie nahm als Grundursache des Lebens bei Menschen und Thieren einen flüchtigen "Lebensgeist" an (Pneuma); und Erasistratus (280 vor Chr.) unterschied bereits einen niederen und einen höheren Lebensgeist, das Pneuma zoticon im Herzen und das Pneuma psychicon im Gehirn.

Der Ruhm, alle diese zerstreuten Kenntnisse zusammengefaßt und den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus, demselben, den wir auch als den ersten großen Anatomen des Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 15). Bei seinen Untersuchungen über die Organe des menschlichen Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren Lebensthätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr ervergleichend und untersuchte vor Allem die menschenähnlichen Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er erkannte auch bereits den hohen Werth des physiologischen Experimentes: bei Vivisektion von Affen, Hunden und Schweinen stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen Theologen und von gefühlsseligen Gemüthsmenschen vielfach auf das Heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu den unentbehrlichen Methoden der Lebens-Forschung und haben uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten Fragen gegeben; diese Thatsache wurde schon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.

Alle verschiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entsprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeistes oder "Spiritus". Das Pneuma psychicon - die "Seele" - hat ihren Sitz in Gehirn und den Nerven, sie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon - das "Herz" - bewirkt die "sphygmischen Funktionen", den Herzschlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma physicon endlich, in der Leber befindlich, ist die Ursache der sogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoffwechsels, des Wachstums und der Fortpflanzung. Dabei legte er besonderes Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und sprach die Hoffnung aus, daß es dereinst gelingen werde, aus der atmosphärischen Luft den Bestandtheil auszuscheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verflossen, ehe dieses Respirations-Pneuma - der Sauerstoff - durch Lavoisier entdeckt wurde.

Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch für seine Physiologie das großartige System des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der Codex aureus, die unantastbare Quelle aller Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christenthums bereitete auch auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten der Naturerkenntniß die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf, der gewagt hätte, selbstständig wieder die Lebensthätigkeiten des Menschen zu untersuchen und über den Bezirk des Systems von Galenus hinauszugehen. Erst im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von angesehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelsus, Servetus, Vesalius u. A.). Aber erst im Jahre 1628 veröffentliche der englische Arzt Harvey seine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige, unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle unablässig durch das kommunicirende Röhrensystem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's Untersuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren er den berühmten Satz aufstellte: "Alles Lebendige entwickelt sich aus einem Ei" (omne vivum ex ovo).

Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen Werke "Elementa physiologiae" begründete er den selbstständigen Werth dieser Wisserschaft und nicht nur in ihrer Beziehung zur praktischen Medicin. Indem aber Haller für die Nerven-Thätigkeit eine besondere "Empfindungskraft oder Sensibilität" und ebenso für die Muskelbewegung eine besondere "Reizbarkeit oder Irritabilität" als Ursache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigenthümlichen "Lebenskraft" (Vis vitalis). (Vergl. Anm. 2, S. 157.)

Lebenskraft (Vitalismus).

Ueber ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb in der Medicin, und speciell in der Physiologie, die alte Anschauung herrschend, daß zwar ein Theil der Lebens-Erscheinungen auf physikalische und chemische Vorgänge zurückzuführen sei, daß aber ein anderer Theil derselben durch eine besondere, davon unabhängige Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. So verschiedenartig auch die besonderen Vorstellungen vom Wesen derselben und besonders von ihrem Zusammenhang mit der "Seele" sich ausbildeten, so stimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den physikalisch-chemischen Kräften der gewöhnlichen "Materie" unabhängig und wesentliche verschieden sei; als eine selbstständige, der anorganischen Natur fehlende "Urkraft" (Archaeus) sollte sie die ersten in ihren Dienst nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit selbst, die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, sondern auch Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fortpflanzung und Entwicklung erschienen allgemein so wunderbar und in ihren Ursachen so räthselhaft, daß es unmöglich sei, sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse zurückzuführen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte, führte sie in der Philosophie zu einer vollkommenen Teleologie; besonders erschien diese unbestreitbar, seitdem selbst der "kritische" Philosoph Kant in seiner berühmten Kritik der teleologischen Urtheilskraft zugestanden hatte, daß zwar die Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen ungeschränkt sie, daß aber die Fähigkeit dazu bei den Erscheinungen des organischen Lebens aufhöre; hier müsse man nothgedrungen zu einem "zweckmäßig thätigen", also übernatürlichen Prinzip seine Zuflucht nehmen. Natürlich wurde der Gegensatz dieser vitalen Phänomene zu den mechanischen Lebensthätigkeiten um so auffälliger, je weiter man in der chemischen und physikalischen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen Bewegungs-Erscheinungen leißen sich auf mechanische Vorgänge, die Athmung und Verdauung auf chemische Processe gleich denjenigen in der anorganischen Natur zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leistungen der Nerven und Muskeln wie im eigentlichen "Seelenleben" schien das unmöglich; und auch das einheitliche Zusammenwirken aller dieser verschiedenen Kräfte im Leben des Individuums erschien damit unerklärbar. So entwickelte sich ein vollständiger physiologischer Dualismus - ein principieller Gegensatz zwischen anorganischer und organischer Natur, zwischen materieller Kraft und Lebenskraft, zwischen Leib und Seele. Im Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieser Vitalismus besonders eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch Reil in Deutschland. Eine schöne poetische Darstellung desselben hatte schon 1795 Alexander Humbold in seiner Erzählung vom Rhodischen Genius gegeben (- wiederholt mit kritischen Anmerkungen in den "Ansichten der Natur" -).

Der Mechanismus des Lebens (monistische Physiologie).

Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der berühmte Philosoph Descartes, fußend auf Harvey's Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgesprochen, daß der Körper des Menschen ebenso wie der Thiere eine komplizirte Maschine sei, und daß ihre Bewegungen nach denselben mechanischen Gesetzen erfolgen wie bei den künstlichen, vom Menschen für einen bestimmten Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menschen allein eine vollkommene Selbstständigkeit der immateriellen Seele an und erklärte sogar deren subjektive Empfindung, das Denken für das Einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz sichere Kenntniß besitzen ("Cogito, ergo sum!"). Allein dieser Dualismus hinderte ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechanischen Lebensthätigkeiten vielseitig zu fördern. Im Anschluß daran führte Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein physikalische Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius, die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemische Processe zu erklären; Ersterer begründete in Medicin eine iatromechanische, Letzterer eine iatrochemische Schule. Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer naturgemäßen, mechanischen Erklärung der Lebens-Erscheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten sie ganz zurück, je mehr sich der teleologische Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur ersteren wurde erst vorbereitet, als im vierten Decennium des 19. Jahrhunderts die neue vergleichende Physiologie sich zu fruchtbarer Geltung erhob.

Vergleichende Physiologie.

Wie unsere Kenntnisse vom Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner Lebensthätigkeit ursprünglich größtentheils nicht durch direkte Beobachtung am menschlichen Organismus selbst gewonnen, sondern an den nächstverwandten Wirbelthieren, vor allem den Säugethieren. Insofern waren schon die ältesten Anfänge der menschlichen Anatomie und Physiologie "vergleichend". Aber die eigentliche "vergleichende Physiologie", welche das ganze Gebiet der Lebens-Erscheinungen von den niedersten Thieren bis zum Menschen hinauf im Zusammenhang erfaßt, ist erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833 bis 1858, volle 25 Jahre hindurch, entfaltete dieser vielseitigste und umfassendste Biologe unserer Zeit an der Berliner Universität als Lehrer und Forscher eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirksamkeit von Haller und Cuvier zu vergleichen ist. Fast alle großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutschland lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes Müller. Ursprünglich ausgehend von der Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen Thiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle Erscheinungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte, erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologischen Erkenntniß.

Die werthvollste Frucht dieser umfassenden Studien von Johannes Müller war sein "Handbuch von der Physiologie des Menschen" (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieses klassiche Werk gab viel mehr, als der Titel besagt; es ist der Entwurf zu einer umfassenden "Vergleichenden Biologie". Noch heute steht dasselbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenso mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der Induktion und Deduktion. Allerdings war Müller ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformirte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das "Leben" selbst, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erscheinungen, die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Ueberall war er bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs, der Athmung und Verdauung wie in den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortschritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten Lebens-Erscheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso wie in der Physiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller ist zugleich der einzige große Naturforscher geblieben, der diese verschiedenen Seiten der Forschung gleichmäßig ausbildete und gleich glänzend in sich vereinigte. Gleich nach seinem Tode zerfiel sein gewaltiges Lehrgebiet in vier verschiedene Provinzen, die jetzt fast allgemein durch vier oder mehr ordentliche Lehrstühle vertreten werden: Menschliche und vergleichende Anatomie, pathologische Anatomie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte. Man hat die Arbeitstheilung dieses ungeheuren Wissensgebietes, die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches verglichen, welches einst Alexander der Große vereinigt beherrscht hatte.

Cellular-Physiologie.

Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche theils schon bei seinen Lebzeiten, theils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichsten (wenn auch nicht der bedeutendste!) Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das gemeinsame Elementar-Organ der Pflanzenerkannt und alle verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller sofort die außerordentliche Tragweite dieser Entdeckung: er versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des Thierkörpers, so z. B. in der Chorda dorsalis der Wirbelthiere, die gleiche Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann seinen Schüler Schwann, diesen Nachweis auf alle thierischen Gewebe auszudehnen. Diese schwierige Aufgabe löste der Letztere glücklich in seinen "Mikroskopischen Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen" (1839). Damit war der Grundstein für die Zellen-Theorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung ebenso für die Physiologie wie für die Anatomie seitdem von Jahr zu Jahr zugenommen und sich immer allgemeiner bewährt hat. Daß auch die Lebensthätigkeit aller Organismen auf diejenige ihrer Gewebetheile, der mikroskopischen Zellen, zurückgeführt werden müsse, führten namentlich zwei andere Schüler von Johannes Müller aus, der scharfsinnige Phyisologe Ernst Brücke in Wien und der berühmte Histologe Albert Kölliker in Würzburg. Der Erstere bezeichnete die Zellen richtig als "Elementar-Organismen" und zeigte, daß sie ebenso im Körper des Menschen wie aller anderen Thiere die einzigen aktuellen, sebstständig thätigen Faktoren des Lebens sind. Kölliker erwarb sich besondere Verdienste nicht nur um die Ausbildung der gesammten Gewebelehre, sondern auch namentlich durch den Nachweis, daß das Ei der Thiere, sowie die daraus entstehenden "Furchungskugeln" einfache Zellen sind.

So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf gegründete Cellular-Physiologie erst in neuester Zeit selbstständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn (in Jena) sich ein doppeltes Verdienst erworben. In seinen "Phyche-physiologischen Protisten-Studien" (1889) hat derselbe auf Grund sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von mir (1866) aufgestellte "Theorie der Zellseele" durch das genaue Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß "die psychischen Vorgänge im Protistenreiche die Brücke bilden, welche die chemischen Processe in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Thiere verbindet". Weiter ausgeführt und gestützt auf die moderne Entwickelungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner "Allgemeinen Physiologie" (zweite Auflage1897). Dieses ausgezeichnete Werk geht zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt von Johannes Müller zurück im Gegensatze zu den einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische und chemische Experimente das Wesen der Lebens-Erscheinungen ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode Müller's und durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen einheitlichen Ueberblick über das wundervolle Gesammt-Gebiet der Lebens-Erscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu der Ueberzeugung, daß auch die sämmtlichen Lebensthätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik und Chemie unterliegen, wie diejenigen aller anderen Thiere.

Cellular-Pathologie.

Die fundamentale Bedeutung der Zellen-Theorie für alle Zweige der Biologie bewährte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den großartigen Fortschritten der gesammten Morphologie und Physiologie, sondern auch besonders in der totalen Reform derjenigen biologischen Wissenschaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur praktischen Heilkunst von jeher die größte Bedeutung in Anspruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß die Krankheiten des Menschen wie aller übrigen Lebewesen Natur-Erscheinungen sind und also gleich den übrigen Lebens-Funktionen nur naturwissenschaftlich erforscht werden können, war ja schon vielen älteren Aerzten zur festen Ueberzeugung geworden. Auch hatten schon im 17. Jahrhundert einzelne medicinische Schulen, die Jatrophysiker und Jatrochemiker, den Versuch gemacht, die Ursachen der Krankheiten auf bestimmte physikalische oder chemische Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige niedere Zustand der Naturwissenschaften verhinderte einen bleibenden Erfolg dieser berechtigten Bestrebungen. Daher blieben mehrere ältere Theorien, welche das Wesen der Krankheit in übernatürlichen oder mystischen Ursachen suchten, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung.

Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Gedanken, die Zellen-Theorie vom gesunden auch auf den kranken Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen Veränderungen, welche als bestimmte "Krankheitsbilder" den lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders während der sieben Jahre seiner Lehrthätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese große Aufgabe mit so glänzendem Erfolge durch, daß seine (1858 veräffentlichte) Cellular-Pathologie mit einem Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische Medicin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für unsere Aufgabe ist diese Reform der Medicin deshalb so bedeutungsvoll, weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurtheilung der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der gesunde, unterliegt denselben "ewigen ehernen Gesetzen" der Physik und Chemie, wie die ganze übrige organische Welt.

Mammalien-Physiologie.

Unter den zahlreichen (50-80) Thierklassen, welche die neuere Zoologie unterscheidet, nehmen die Säugethiere (Mammalia) nicht allein in morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung eine ganz besondere Stellung ein. Da nun auch der Mensch seinem ganzen Körperbau nach zur Klasse der Säugethiere gehört (S. 18), müssen wir von vornherein erwarten, daß er auch den besonderen Charakter seiner Lebensthätigkeiten mit den übrigen Mammalien theilen wird. Und das ist in der That der Fall. Der Blutkreislauf und die Athmung vollziehen sich beim Menschen genau nach denselben Gesetzen und in derselben eigenthümlichen Form, welche auch allen anderen Säugethiere - und nur diesen! - zukommt; sie ist bedingt durch den besonderen, feineren Bau ihres Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Mammalien wird alles Arterien-Blut aus der linken Herzkammer durch einen - und zwar den linken - Aorten-Bogen in den Körper geführt, während dies bei den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien durch beide Aorten-Bögen bewirkt wird. Das Blut der Säugethiere zeichnet sich vor demjenigen aller anderen Wirbelthiere dadurch aus, daß aus ihren roten Blutzellen der Kern verschwunden ist durch Rückbildung). Die Athem-Bewegungen werden nur in dieser Thierklasse vorzugsweise durch das Zwergfell vermittelt, weil dasselbe nur hier eine vollständige Scheidewand zwischen Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz besonders wichtig aber ist für diese höchst entwickelte Thierklasse die Produktion der Milch in den Brustdrüsen (Mammae) und die besondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des Jungen durch die Milch der Mutter mit sich bringt. Da dieses Säuge-Geschäft auch andere Lebensthätigkeiten in der eingreifendsten Weise beeinflußt, da die Mutterliebe der Säugethiere aus dieser innigen Form der Brutpflege ihren Ursprung genommen hat, erinnert uns der Name der Klasse mit Recht an ihre hohe Bedeutung. In Millionen von Bildern, zum großen Theil von Künstlern ersten Ranges, wird "die Madonna mit dem Christurkinde" verherrlicht, als das reinste und erhabendste Urbild der Mutterliebe; desselben Instinktes, dessen extremste Form die übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darstellt.

Physiologie der Affen.

Da unter allen Säugethieren die Affen im gesammten Körperbau dem Menschen am nächsten stehen, läßt sich von vornherein erwarten, daß dasselbe auch von ihren Lebensthätigkeiten gilt; und das ist in Wahrheit der Fall. Wie sehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die Sinnesfunktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen sich demjenigen des Menschen nähern, weiß Jedermann. Aber die wissenschaftliche Physiologie weist dieselbe bedeutungsvolle Uebereinstimmung auch für andere weniger bekannte Erscheinungen nach, besonders die Herzthätigkeit, die Drüsen-Absonderung und das Geschlechtsleben. In letzterer Beziehung ist besonders merkwürdig, daß die geschlechtsreifen Weibchen bei vielen Affen-Arten einen regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter erleiden, entsprechend der Menstruation (oder "Monats-Regel") das menschlichen Weibes. Auch die Milch-Absonderung aus der Brustdrüse und das Säugegeschäft geschieht bei den weiblichen Affen genau ebenso wie bei den Frauen.

Besonders interessant ist endlich die Thatsache, daß die Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu der artikulirten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch lebenden Menschenaffen giebt es eine indische Art, welche musikalisch ist: derHylobates syndactylus auf Sumatro singt in vollkommen reinen und klangvollen, halben Thönen eine ganze Oktave. Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinen Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hochentwickelte Begriffs-Sprache sich langsam und stufenweise aus der unvollkommenen Lautsprache unserer pliocänen Affen-Ahnen entwickelt hat. (Vergl. den 18. Vortrag meiner "Anthropogenie".)


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Copyright 1997. Kurt Stüber