Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Achtzehntes Kapitel
Unsere monistische Religion.
Monistische Studien über die Religion der Vernunft und ihre
Harmonie mit der Wissenschaft. Die drei Kultus-Ideale des Wahren,
Guten und Schönen.
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Inhalt: Der Monismus als Band zwischen Religion und
Wissenschaft. Der Kulturkampf. Verhältnisse von Staat und Kirche.
Principien der monistischen Religion. Ihre drei Kultus-Ideale: das
Wahre, Gute und Schöne. Gegensatz der natürlichen und
christlichen Wahrheit. Harmonie der monistischen und christlichen
Tugend-Begriffe. Gegensatz der monistischen und christlichen Kunst.
Moderne Erweiterung und Bereicherung des Weltbildes. Landschafts-Malerei und
moderner Naturgenuß. Schönheiten der Natur.
Diesseits und Jenseits. Monistische Kirchen.
Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der
Gegenwart, welche unsere monistischen Ueberzeugungen theilen, halten
die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie
meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwickelung, die wir den
gewaltigen Erkenntnißfortschritten des 19. Jahrhunderts
verdanken, nicht bloß das Kausalitäts-Bedürfniß
unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die
höchsten Gefühls-Bedürfnisse unseres
Gemüthes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig,
insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des
Monismus thatsächlich die beiden Begriffe von Religion und
Wissenschaft zu Einem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige
entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten
Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr
verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit (ganz abgesehen von den
ungebildeten Volksmassen) bei der Ueberzeugung, daß die Religion
ein selbstständiges, von der Wissenschaft unabhängiges
Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder werthvoll und
unentbehrlich als die letztere.
Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine
Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend
getrennten Gebieten in der Auffassung finden, welche ich 1892 in
meinem Altenburger Vortrage niedergelegt habe: "Der Monismus als
Band zwischen Religion und Wissenschaft". In dem Vorwort zu diesem
"Glaubensbekenntniß eines Naturforschers" habe ich mich
über dessen doppelten Zweck mit folgenden Worten
geäußert: "Erstens möchte ich damit derjenigen
vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns
durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntniß
mit logischer Nothwendigkeit aufgedrungen wird; sie wohnt im
Innersten von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern,
wenn auch nur wenige den Muth oder das Bedürfniß haben,
sie offen zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band
zwischen Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur
Ausgleichung des Gegensatzes beitragen, welcher zwischen diesen
beiden Gebieten der höchsten menschlichen
Geistesthätigkeit unnöthiger Weise aufrecht erhalten wird;
das ethische Bedürfniß unseres Gemüthes wird
durch den Monismus ebenso befriedigt, wie das logische
Kausalitäts-Bedürfniß unseres Verstandes."
Die starke Wirkung, welche dieser Altenburger Vortrag hatte, beweist,
daß ich mit diesem monistischen Glaubensbekenntniß nicht
nur dasjenige vieler Naturforscher, sondern auch zahlreicher gebildeter
Männer und Frauen aus verschiedenen Berufskreisen
ausgesprochen hatte. Nicht nur wurde ich durch Hunderte von
zustimmenden Briefen belohnt, sondern auch durch die weite
Verbreitung des Vortrags, von welchem innerhalb sechs Monaten sechs
Auflagen erschienen. Ich darf diesen unerwarteten Erfolg um so
höher anschlagen, als jenes Glaubensbekenntniß
ursprünglich eine freie Gelegensheitsrede war, die unvorbereitet
am 9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums
der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes entstand.
Natürlich erfolgte auch bald die nothwendige Gegenwirkung nach
der anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen Presse
des Papismus auf das Heftigste angegriffen, von den
geschworenen Vertheidigern des Aberglaubens, sondern auch von
"liberalen" Kriegsmännern des evangelischen Christenthums,
welche sowohl die wissenschafliche Wahrheit als auch den
aufgeklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber
in den sieben seitdem verflossenen Jahren der große Kampf
zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen
Christenthum immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um
so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung
da letztere durch die wachsende geistige und politische Reaktion
gefunden hat. Ist doch die letztere in manchen Ländern schon so
weit vorgeschritten, daß die gesetzlich garantirte Denk- und
Gewissensfreiheit praktisch schwer gefährdet wird (so z. b. jetzt in
Bayern). In der That hat der große weltgeschichtliche
Geisteskampf, welchen John Draper in seiner "Geschichte der
Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft" so vortrefflich schildert,
heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man
bezeichnet ihn deshalb seit 30 Jahren mit Recht als
"Kulturkampf".
Der Kulturkampf.
Die berühmte Encyklika nebst
Syllabus, welche der streitbare Papst Pius IX. 1864 in alle Welt
gesandt hatte, erklärte in der Hauptsache der ganzen modernen
Wissenschaft den Krieg; sie fordert blinde Unterwerfung der Vernunft
unter die Dogmen des "unfehlbaren Statthalters Christi". Das
Ungeheuerliche und Unerhörte dies brutalen Attentates gegen die
höchsten Güter der Kultur-Menschheit rüttelte selbst
viele träge und indolente Gemüther aus ihrem gewohnten
Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden
Verkündigung der päpstlichen Infallibilität
(1870) rief die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine
energische Abwehr, welche zu den besten Hoffnungen berechtigte. In
dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866
und 1871 unter schweren Opfern seine unentbehrliche nationale Einheit
errungen hatte, wurden die frechen Attentate des Papismus besonders
schwer empfunden; denn einerseits ist Deutschland die
Geburtsstätte der Reformation und der modernen
Geistesbefreiung; andererseits aber besitzt es leider in seinen 18
Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren
Gläubigen, welches an blindem Gehorsam gegen die Befehle seines
Oberhirten von keinem anderen Kultur-Volke übertroffen wird.
Christus sagt zu Petrus: "Weide meine Schafe!" Die
Nachfolger auf dem Stuhle Petri haben das "Weiden" ins
"Scheeren" übersetzt. Die hieraus entspringenden Gefahren
erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der das "politische
Welträthsel" der deutschen National-Zerrissenheit gelöst und
und durch bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten
Ziele nationaler Einheit und Macht geführt hatte. Fürst
Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan
aufgedrungenen Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten
Kultusminister Falk durch die "Maigesetzgebung" (1873) ebenso
klug als energisch geführt wurde. Leider mußte derselbe
schon sechs Jahre später aufgegeben werden. Obwohl unser
größter Staatsmann ein ausgezeichneter Menschenkenner
und kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei
gewaltigen Hindernissen unterschätzt; erstens die
unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der
römischen Kurie, zweitens die entsprechende Gedankenlosigkeit
und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen, auf
welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der
Trägheit, des Fortbestehens des Unvernünftigen, bloß
weil es da ist. So mußte denn schon 1878, nachdem dem
klügere Papst Leo XIII. seine Regierung angetreten hatte, der
schwere "Gang nach Canossa" wiederholt werden. Die neu
gestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder mächtig
zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangen-Windungen seiner
aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die
falsche Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die
merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes.
So müssen wir denn am Schlusse des 19. Jahrhunderts das
beschämende Schauspiel erleben, daß das sognannte
"Centrum im Deutschen Reichstage Trumpf" ist, und daß die
Geschicke unseres gedemüthigten Vaterlandes von einer
papistischen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch nicht den
dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt.
Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem
Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische
Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer
Versuch die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistes-Tyrannei zu
befreien; die gesammte liberale Presse feierte Fürst
Bismarck als "politischen Luther", als den gewaltigen Helden, der nicht
nur die nationale Einigung, sondern auch die geistige Befreiung
Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus
gesiegt hatte, behauptete dieselbe "liberale Presse" das Gegentheil und
erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und
dasselbe thut sie noch heute. Diese Thatsache beweist nur, wie kurz das
Gedächtniß unserer Zeitungsschreiber, wie mangelhaft ihre
Kenntniß der Geschichte und wie unvollkommen ihre
philosophische Bildung ist. Der sogenannte "Friedensschluß
zwischen Staat und Kirche" ist immer nur ein Waffenstillstand. Der
moderne Papismus, getreu den absolutistischen, seit 1600 Jahren
befolgten Principien, will und muß die Alleinherrschaft
über die leichtgläubigen Seelen behaupten; er muß die
absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die
Rechte der Vernunft und Wissenschaft vertritt. Wirklicher Friede kann
erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer
bewältigt am Boden liegt. Entweder siegt die "alleinseligmachende
Kirche", und dann hört "freie Wissenschaft und freie Lehre"
überhaupt auf; dann werden sich unsere Universitäten in
Konvikte, unsere Gymnasien in Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt
der moderne Vernunft-Staat, und dann wird sich im 20. Jahrhundert die
menschliche Bildung, Freiheit und Wohlstand in noch weit
höherem Maaße fortschreitend entwickeln, als es im 19.
erfreulicher Weise der Fall gewesen ist. (Vergl. hierüber Eduard
Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christenthums, 1874).
Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst
wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die
Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren
wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie
auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebilde
für das menschliche Gemüth herrichtet; eine Palast der
Vernunft, in welchem wir mittelst unserer neu gewonnenen
monistischen Weltanschauung die wahre "Dreieinigkeit" des 19.
Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des
Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieser
göttlichen Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor Allem
nothwendig, uns mit den herrschenden Religionsformen des
Christenthums aus einander zu setzen und die Veränderungen in's
Auge zu fassen, welche bei der Ersetzung der letzteren durch die erstere
zu erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer
ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer
und Mängel eine so hohen sittlichen Werth, sie ist vor Allem seit
anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten socialen und
politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß
wir uns bei Begründung unserer monistischen Institutionen
anlehnen müssen. Wi wollen keine gewaltsame Revolution,
sondern eine vernünftige Reformation unseres
religiösen Geisteslebens. In ähnlicher Weise nun, wie vor
2000 Jahren die klassische Poesie der alten Hellenen ihre Tugend-Ideale
in Götter-Gestalten verkörperte, können wir auch
unseren drei Vernunft-Idealen die Gestalt hehrer Göttinnen
verleihen; wir wollen untersuchen, wie die drei Göttinnen der
Wahrheit, der Schönheit und der Tugend nach
unserem Monismus sich gestalten, und wir wollen ferner ihr
Verhältniß zu den entsprechenden Göttern des
Christenthums untersuchen, die sie ersetzen sollen.
I. Das Ideal der Wahrheit.
Wir haben uns durch die
vorhergehenden Betrachtungen (besonders im ersten und dritten
Abschnitt) überzeugt, daß die reine Wahrheit nur in dem
Tempel der Natur-Erkenntniß zu finden ist, und daß
die einzigen brauchbaren Wege zu demselben die kritische
"Beobachtung und Reflexion" sind, die empirische Erforschung der
Thatsachen und die vernunftgemäße Erkenntniß ihrer
bewirkenden Ursachen. So gelangen wir mittelst der reinen
Vernunft zur wahren Wissenschaft, dem kostbarsten Schatze der
Kultur-Menschheit. Dagegen müssen wir aus den gewichtigen, im
16. Kapitel erörterten Ursachen jede sogenannte
"Offenbarung" ablehnen, jede Glaubens-Dichtung, welche
behauptet, auf übernatürlichem Wege Wahrheiten zu
erkennen, zu deren Entdeckung unsere Vernunft nicht ausreicht. Da nun
das ganze Glaubens-Gebäude der jüdisch-christlichen
Religion, ebenso wie das islamische und buddhistische, auf solchen
angeblichen Offenbarungen beruht, da ferner diese mysthischen
Phantasie-Produkte direkt der klaren empirischen Natur-Erkenntniß
widersprechen, so ist es sicher, daß wir die
Wahrheit nur mittelst der Vernunft-Thätigkeit der echten
Wissenschaft finden können, nicht mittelst der Phantasie-Dichtung
des mysthischen Glaubens. In dieser Beziehung ist es ganz
sicher, daß die christliche Weltanschauung durch die
monistische Philosophie zu ersetzen ist. Die Göttin der
Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem
blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen; - aber
nicht in den dumpfen Hallen der Klöster, in den engen Kerkern der
Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden christlichen
Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herrlichen Göttin der
Wahrheit und Erkenntniß nähern, sind die liebevolle
Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Beobachtung der unendlich
großen Sternenwelt mittelst des Teleskops, der unendlich kleinen
Zellenwelt mittelst des Mikroskops; - aber nicht sinnlose Andachts-Uebungen und
gedankenlose Gebete, nicht die Opfergaben des Ablasses
und der Peterspfennige. Die kostbaren Gaben, mit denen uns die
Göttin der Wahrheit beschenkt, sind die herrlichen Früchte
vom Baume der Erkenntniß und der unschätzbare Gewinn
einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, - aber nicht der Glaube an
übernatürliche "Wunder" und das Wahngebilde eines
"ewigen Lebens".
II. Das Ideal der Tugend.
Anders als mit dem ewig Wahren
verhält es sich mit den Gottes-Ideal des ewig Guten.
Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung
der Kirche völlig auszuschließen und allein die Erforschung
der Natur zu befragen ist, fällt dagegen der Inbegriff des
Guten, den wir Tugend nennen, in unserer monistischen Religion
größtentheils mit der christlichen Tugend zusammen;
natürlich gilt das nur von dem ursprünglichen, reinen
Christenthum der drei ersten Jahrhunderte, wie dessen Tugendlehren in
den Evangelien und in den paulinischen Briefen niedergelegt sind; - es
gilt aber nicht von der vatikanischen Karikatur jener reinen Lehre,
welche die europäische Kultur zu ihrem unendlichen Schaden
durch zwölf Jahrhunderte beherrscht hat. Den besten Theil der
christlichen Moral, an dem wir festhalten, bilden die Humanitäts-Gebote der
Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hülfe. Nur
sind diese edlen Pflichtgebote, die man als "christliche Moral" (im besten
Sinne!) zusammenfaßt, keine neuen Erfindungen ders
Christenthums, sondern sie sind von diesem aus älteren
Religionsformen herübergenommen. In der That ist ja die
"Goldene Regel", welche diese Gebote in einem Satze
zusammenfaßt, Jahrhunderte älter als das Christenthum. In
der Praxis des Lebens aber wurde dieses natürliche Sittengesetz
ebenso oft von Atheisten und Nichtchristen sorgsam befolgt als
von frommen, gläubigen Christen außer Acht gelassen.
Uebrigens beging die christliche Tugendlehre einen großen Fehler,
indem sie einseitig den Altruismus zum Gebote erhob, den
Egoismus dagegen verwarf. Unsere monistische Ethik legt
beiden gleichen Werth bei und findet die vollkommene Tugend in
dem richtigen Gleichgewicht von Nächstenliebe und Eigenliebe.
(Vergl. Kapitel 19. Das ethische Grundgesetz.)
III. Das Ideal der Schönkeit.
In größten
Gegensatz zum Christenthum tritt unser Monismus auf dem Gebiete der
Schönheit. Das ursprüngliche, reine Christenthum predigte
die Werthlosigkeit des irdischen Lebens und betrachtete dasselbe
bloß als eine Vorbereitung für das ewige Leben im
"Jenseits". Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das
menschliche Leben im "Diesseits" darbietet, alles Schöne in
Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Leben,
keinen Werth besitzt. Der wahre Christ muß sich von ihm
abwenden und nur daran denken, sich für das Jenseits
würdig vorzubereiten. Die Verachtung der Natur, die Abwendung
von allen ihren unerschöpflichen Reizen, die Verwerfung jeder Art
von schöner Kunst sind echte Christen-Pflichten; diese
würden am vollkommensten erfüllt, wenn der Mensch sich
von seinen Mitmenschen absonderte, sich kasteite und in Klöstern
oder Einsiedeleien ausschließlich mit der "Anbetung Gottes"
beschäftigte.
Nun lehrt uns freilich die Kulturgeschichte, daß diese asketische
Christen-Moral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche Folge
das Gegentheil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und
Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien; der
sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte massenhaft
Novellen, wie sie die Literatur der Renaissance sehr naturwahr
geschildert hat. Der Kultus der "Schönheit", der hier getrieben
wurde, stand mit der gepredigten "Weltentsagung" in schneidendem
Widerspruch, und dasselbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche
sich bald in dem sittenlosen Privatleben des höheren katholischen
Klerus und in der künstlerischen Auschmückung der
christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.
Christliche Kunst.
Man wird hier einwenden, daß unsere
Ansicht durch die Schönheitsfülle der christlichen Kunst
widerlegt werde, welche besonders in der Blüthezeit des
Mittelalters so unvergängliche Werke schuf. Die prachtvollen
gothischen Dome und byzanthinischen Basilisken, die Hunderte von
prächtigen Kapellen, die Tausende von Marmor-Statuen
christlicher Heiligen und Märtyrer, die Millionen von
schönen Heiligenbildern, von tiefempfundenen Darstellungen von
Christus und der Madonna - sie zeugen alle von einer Entwickelung der
schönen Künste im Mittelalter, die in ihrer Art einzig ist.
Alle diese herrlichen Denkmäler der bildenden Kunst, ebensie wie
die der Dichtkunst, behalten ihren hohen ästhetischen Werth,
gleichviel, wie wir die darin enthaltene Mischung von "Wahrheit und
Dichtung" beurtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen
Christenlehre zu thun, mit jener Religion der Entsagung, welche von
allem irdischen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit
und Kunst sich abwendete, welche das Familienleben und die
Frauenleibe gering schätzte, welche allein die Sorge um die
immateriellen Güter des "ewigen Lebens" predigte? Der Begriff der
"christlichen Kunst" ist eigentlich ein Widerspruch in sich, eine
"Contradictio in adjecto". Die reichen Kirchenfürsten
freilich, welche dieselbe pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke,
und sie erreichten sie auch vollständig. Indem sie das ganze
Interesse und Streben des menschlichen Geistes im Mittelalter auf die
christliche Kirche und deren eigenthümliche Kunst
lenkten, wendeten sie dasselbe von der Natur ab und von der
Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu
selbstständiger Wissenschaft geführt hätten.
Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der
überall massenhaft ausgestellten Heiligenbilder, der Darstellungen
aus der "heiligen Geschichte", den gläubigen Christen jederzeit an
den reichen Sagenschatz, den die Phantasie der Kirche angesammelt
hatte. Die Legenden derselben wurden für wahre
Erzählungen, die Wundergeschichten für wirkliche
Ereignisse ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieser
Beziehung die christliche Kunst einen ungeheuren Einfluß auf die
allgemeine Bildung und ganz besonders auf die Festigung des Glaubens
geübt, einen Einfluß, der sich in der ganzen Kulturwelt bis
auf den heutigen Tag geltend macht.
Monistische Kunst.
Das diametrale Gegenstück dieser
herrschenden christlichen Kunst ist diejenige neue Form der bildenden
Kunst, die sich erst in unseren Jahrhundert, im Zusammenhang mit der
Naturwissenschaft entwickelt hat. Die überraschende
Erweiterung unserer Weltkenntniß, die Entdeckung von
unzähligen schönen Lebens-Formen, die wir der letzteren
verdanken, hat in unserer Zeit einen ganz anderen ästhetischen
Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunst eine neue Richtung
gegeben. Zahlreiche wissenschaftliche Reisen und große
Expeditionen zur Erforschung unbekannter Länder und Meere
förderten schon im 18., noch viel mehr aber im 19. Jahrhundert
eine ungeahnte Fülle von unbekannten organischen Formen zu
Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen-Arten wuchs bald in's
Unermeßliche, und unter diesen (besonders unter den früher
vernachlässigten niederen Gruppen) fanden sich Tausende
schöner und interessanter Gestalten, ganz neue Motive für
Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunstgewerbe. Eine
neue Welt erschloß in dieser Beziehung besonders die
ausgedehntere mikroskopische Forschung in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts und namentlich die Entdeckung der
fabelhaften Tiefsee-Bewohner, die erst durch die berühmte
Challenger-Expedition (1872-1876) an's Licht gezogen wurden.
Tausende von zierlichen Radiolarien und Thalamophoren, von
prächtigen Medusen und Korallen, von abenteuerlichen Mollusken
und Krebsen eröffneten uns da mit einem Male eine ungeahnte
Fülle von verborgenen Formen, deren eigenartige Schönheit
und Mannigfaltigkeit alle von der menschlichen Phantasie geschaffenen
Kunstprodukte weitaus übertrifft. Allein schon in den 50
großen Bänden des Challenger-Werkes ist auf 3000 Tafeln
eine Masse solcher schöner Gestalten abgebildet; aber auch in
vielen anderen großen Prachtwerken, welche die mächtig
wachsende zoologische und botanische Literatur der letzten Decennien
enthält, sind Millionen reizender Formen dargestellt. Ich habe
kürzlich den Versuch begonnen, in meinen "Kunstformen der
Natur" (1899) eine Auswahl von solchen schönen und reizvollen
Gestalten weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Indessen bedarf es nicht weiter Reisen und kostspieliger Werke, um
jedem Menschen die Herrlichkeiten dieser Welt zu erschließen.
Vielmehr müssen dafür nur seine Augen geöffnet und
sein Sinn geübt werden. Ueberall bietet die umgebende Natur eine
überreiche Fülle von schönen und interessanten
Objekten aller Art. In jedem Moose und Grashalme, in jedem Käfer
und Schmetterling finden wir bei genauer Untersuchung
Schönheiten, an denen der Mensch gewöhnlich achtlos
vorübergeht. Vollends wenn wir dieselben mit einer Lupe bei
schwacher Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn
wir die stärkere Vergrößerung eines guten
Mikroskopes anwenden, entdecken wir überall in der organischen
Natur eine neue Welt voll unerschöpflicher Reize.
Aber nicht nur für diese ästhetische Betrachtung des Kleinen
und Kleinsten, sondern auch für diejenige des Großen und
Größten in der Natur hat uns erst das 19. Jahrhundert die
Augen geöffnet. Noch im Beginne desselben war die Ansicht
herrschend, daß die Hochgebirgsnatur zwar großartig, aber
furchtbar sei. Jetzt, am Ende desselben, sind die meisten Gebildeten -
und besonders die Bewohner der Großstädte -
glücklich, wenn sie jährlich auf ein paar Wochen die
Herrlichkeit der Alpen und die Krystallpracht der Gletscher
genießen können; oder wenn sie sich an der Majestät
des blauen Meeres, an den reizenden Landschaftbildern seiner
Küsten erfreuen können. Alle diese Quellen edelsten
Naturgenusses sind uns erst neuerdings in ihrer ganzen Herrlichkeit
offenbar und verständlich geworden, und die erstaunlich
gesteigerte Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verkehrs hat selbst den
Unbemittelteren die Gelegenheit zu ihrer Kenntniß verschafft. Alle
diese Fortschritte im ästhetischen Naturgenusse - und damit
zugleich im wissenschaftlichen Naturverständniß - bedeuten
ebenso viele Fortschritte in der höheren menschlichen
Geistesbildung und damit zugleich in unserer monistischen Religion.
Landschaftsmalerei und Illustrations-Werke.
Der Gegensatz, in
welchem unser naturalistisches Jahrhundert zu den
vorhergehenden anthropistishcen steht, prägt sich
besonders in der verschiedenen Werthschätzung und Verbreitung
von Illustrationen der mannigfaltigsten Natur-Objekte aus. Es hat sich in
unserer Zeit ein lebhaftes Interesse für bildliche Darstellungen
derselben entwickelt, das früheren Zeiten unbekannt war;
dasselbe wird unterstützt durch die erstaunlichen Fortschritte der
Technik und des Verkehrs, welche eine allgemeine Verbreitung
derselben in weitesten Kreisen gestatten. Zahlreiche illustrierte
Zeitschriften verbreiten mit der allgemeinen Bildung zugleich den Sinn
für die unendliche Schönheit der Natur in allen Gebieten.
Besonders in der Landschaftsmalerei, die hier eine früher
nicht geahnte Bedeutung gewonnen hat. Schon in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hatte einer unserer größten und
vielseitigsten Naturforscher, Alexander Humboldt, darauf
hingewiesen, wie die Entwickelung der modernen Landschaftmalerei
nicht nur als "Anregungs-Mittel zum Natur-Studium" und als
geographisches Anschauungs-Mittel von hoher Bedeutung sei, sondern
wie sie auch in anderer Beziehung als ein edles Bildungsmittel
hochzuschätzen sei. Seitdem ist der Sinn dafür noch
bedeutend weiter entwickelt. Es sollte Aufgabe jeder Schule sein, die
Kinder frühzeitig zum Genusse der Landschaft anzuleiten
und zu der höchst dankbaren Kunst, sie durch Zeichnen und
Aquarell-Malen ihrem Gedächtniß einzuprägen.
Moderner Naturgenuß.
Der unendliche Reichthum der
Natur an Schönem und Erhabenem bietet jedem Menschen, der
offene Augen und ästhetischen Sinn besitzt, eine
unerschöpfliche Fülle der herrlichsten Gaben. So werthvoll
und beglückend aber auch der unmittelbare Genuß jeder
einzelnen Gabe ist, so wird deren Werth doch noch hoch gesteigert durch
die Erkenntniß ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhanges mit
der übrigen Natur. Als Alexander Humboldt vor
fünfzig Jahren in seinem großartigen "Kosmos" den
"Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" gab, als er in seinen
mustergültigen "Ansichten der Natur" wissenschaftliche und
ästhetische Betrachtung in glücklichster Weise verband, da
hat er mit Recht hervorgehoben, wie eng der veredelte Naturgenuß
mit der "wissenschafltichen Ergründung der Weltgesetze",
verknüpft ist, und wie beide vereinigt dazu dienen, das
Menschenwesen auf eine höhere Stufe der Vollendung zu erheben.
Die staunende Bewunderung, mit der wir den gestirnten Himmel und
das mikroskopische Leben in einem Wassertropfen betrachten, die
Ehrfurcht, mit der wir das wunderbare Wirken der Energie in der
bewegten Materie untersuchen, die Andacht, mit welcher wir die
Geltung des allumfassenden Substanz-Gesetzes im Universum verehren,
- sie alle sind Bestandtheile unseres Gemüths-Lebens, die
unter den Begriff der "natürlichen Religion" fallen.
Diesseits und Jenseits.
Die angedeuteten Fortschritte in der
Erkenntniß des Wahren und im Genusse des Schönen bilden
ebenso einerseits einen werthvollen Inhalt unserer monistischen
Religion, als sie andererseits in feindlichem Gegensatze zum
Christenthum stehen. Denn der menschliche Geist lebt dort in dem
bekannten "Diesseits", hier in einem unbekannten
"Jenseits". Unser Monismus lehrt, daß wir sterbliche Kinder
der Erde sind, die ein oder zwei, höchstens drei "Menschenalter"
hindurch das Glück haben, im Diesseits die Herrlichkeiten dieses
Planeten zu genießen, die unerschöpfliche Fülle seiner
Schönheit zu schauen und die wunderbaren Spiele seiner
Naturkräfte zu erkennen. Das Christenthum dagegen lehrt,
daß die Erde ein elendes Jammerthal ist, auf welchem wir
bloß eine kurze Zeit lang uns zu kasteien und abzuquälen
brauchen, um sodann im "Jenseits" ein ewiges Leben voller Wonne zu
genießen. Wo dieses "Jenseits" liegt, und wie diese Herrlichkeit des
ewigen Lebens eigentlich beschaffen sein soll, das hat uns noch keine
"Offenbarung" gesagt. Solange der "Himmel" für den Menschen ein
blaues Zelt war, ausgespannt über der scheibenförmigen
Erde und erleuchtet durch das blinkende Lampenlicht einiger tausend
Sterne, konnte sich die menschliche Phantasie oben in diesem
Himmelssaal allenfalls das ambrosiche Gastmahl der olympischen
Götter oder die Tafel-Freuden der Walhalla-Bewohner vorstellen.
Nun ist neuerdings für alle diese Gottheiten und für die mit
ihnen tafelnden "unsterblichen Seelen" die offenkundige, von David
Strauß geschilderte Wohnungsnoth eingetreten; den wir
wissen jetzt durch die Astrophysik, daß der unendliche
Raum mit ungenießbarem Aether erfüllt ist, und das
Millionen von Weltkörpern, nach ewigen Gesetzen bewegt, sich
rastlos in demselben umhertreiben, alle im ewigen großen "Werden
und Vergehen" begriffen.
Monistische Kirchen.
Die Stätten der Andacht, in denen
der Mensch sein religiöses Gemüths-Bedürfniß
befriedigt und die Gegenstände seiner Anbetung verehrt,
betrachtet er als seine geheiligten "Kirchen". Die Pagoden im
buddhistischen Asien, die griechischen Tempel im klassischen
Alterthum, die Synagogen in Palästina, die Moscheen in Egypten,
die katholischen Dome im südlichen und die evangelischen
Kathedralen im nördlichen Europa - alle diese "Gotteshäuser"
sollen dazu dienen, den Menschen über die Misere und Prosa des
realen Alltagslebens zu erheben; sie sollen ihn in die Weihe und die
Poesie einer höheren, idealen Welt versetzen. Sie erfüllen
diesen Zweck in vielen tausend verschiedenen Formen, entsprechend
den verschiedenen Kulturformen und Zeitverhältnissen. Der
moderne Mensch, welcher "Wissenschaft und Kunst" besitzt - und damit
zugleich auch Religion -, bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen,
eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er
seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Theil
desselben richtet, überall findet er zwar den harten "Kampf um's
Dasein", aber daneben auch das "Wahre, Schöne und Gute";
überall findet er seine "Kirche" in der herrlichen
Natur selbst. Indessen wird es doch den besonderen
Bedürfnissen vieler Menschen entsprechen, auch außerdem
in schön geschmückten Tempeln oder Kirchen geschlossene
Andachtshäuser zu besitzen, in die sie sich zurückziehen
können. Ebenso, wie seit dem 16. Jahrhundert der Papismus
zahlreiche Kirchen an die Reformation abtreten mußte, wird im 20.
Jahrhundert ein großer Theil derselben an die "freien Gemeinden"
des Monismus übergeben.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber