Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber

Achtzehntes Kapitel

Unsere monistische Religion.

Monistische Studien über die Religion der Vernunft und ihre Harmonie mit der Wissenschaft. Die drei Kultus-Ideale des Wahren, Guten und Schönen.

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Inhalt: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Der Kulturkampf. Verhältnisse von Staat und Kirche. Principien der monistischen Religion. Ihre drei Kultus-Ideale: das Wahre, Gute und Schöne. Gegensatz der natürlichen und christlichen Wahrheit. Harmonie der monistischen und christlichen Tugend-Begriffe. Gegensatz der monistischen und christlichen Kunst. Moderne Erweiterung und Bereicherung des Weltbildes. Landschafts-Malerei und moderner Naturgenuß. Schönheiten der Natur. Diesseits und Jenseits. Monistische Kirchen.

Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der Gegenwart, welche unsere monistischen Ueberzeugungen theilen, halten die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwickelung, die wir den gewaltigen Erkenntnißfortschritten des 19. Jahrhunderts verdanken, nicht bloß das Kausalitäts-Bedürfniß unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühls-Bedürfnisse unseres Gemüthes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig, insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des Monismus thatsächlich die beiden Begriffe von Religion und Wissenschaft zu Einem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit (ganz abgesehen von den ungebildeten Volksmassen) bei der Ueberzeugung, daß die Religion ein selbstständiges, von der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder werthvoll und unentbehrlich als die letztere.

Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend getrennten Gebieten in der Auffassung finden, welche ich 1892 in meinem Altenburger Vortrage niedergelegt habe: "Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft". In dem Vorwort zu diesem "Glaubensbekenntniß eines Naturforschers" habe ich mich über dessen doppelten Zweck mit folgenden Worten geäußert: "Erstens möchte ich damit derjenigen vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntniß mit logischer Nothwendigkeit aufgedrungen wird; sie wohnt im Innersten von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern, wenn auch nur wenige den Muth oder das Bedürfniß haben, sie offen zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band zwischen Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur Ausgleichung des Gegensatzes beitragen, welcher zwischen diesen beiden Gebieten der höchsten menschlichen Geistesthätigkeit unnöthiger Weise aufrecht erhalten wird; das ethische Bedürfniß unseres Gemüthes wird durch den Monismus ebenso befriedigt, wie das logische Kausalitäts-Bedürfniß unseres Verstandes."

Die starke Wirkung, welche dieser Altenburger Vortrag hatte, beweist, daß ich mit diesem monistischen Glaubensbekenntniß nicht nur dasjenige vieler Naturforscher, sondern auch zahlreicher gebildeter Männer und Frauen aus verschiedenen Berufskreisen ausgesprochen hatte. Nicht nur wurde ich durch Hunderte von zustimmenden Briefen belohnt, sondern auch durch die weite Verbreitung des Vortrags, von welchem innerhalb sechs Monaten sechs Auflagen erschienen. Ich darf diesen unerwarteten Erfolg um so höher anschlagen, als jenes Glaubensbekenntniß ursprünglich eine freie Gelegensheitsrede war, die unvorbereitet am 9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes entstand. Natürlich erfolgte auch bald die nothwendige Gegenwirkung nach der anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen Presse des Papismus auf das Heftigste angegriffen, von den geschworenen Vertheidigern des Aberglaubens, sondern auch von "liberalen" Kriegsmännern des evangelischen Christenthums, welche sowohl die wissenschafliche Wahrheit als auch den aufgeklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber in den sieben seitdem verflossenen Jahren der große Kampf zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen Christenthum immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung da letztere durch die wachsende geistige und politische Reaktion gefunden hat. Ist doch die letztere in manchen Ländern schon so weit vorgeschritten, daß die gesetzlich garantirte Denk- und Gewissensfreiheit praktisch schwer gefährdet wird (so z. b. jetzt in Bayern). In der That hat der große weltgeschichtliche Geisteskampf, welchen John Draper in seiner "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft" so vortrefflich schildert, heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn deshalb seit 30 Jahren mit Recht als "Kulturkampf".

Der Kulturkampf.

Die berühmte Encyklika nebst Syllabus, welche der streitbare Papst Pius IX. 1864 in alle Welt gesandt hatte, erklärte in der Hauptsache der ganzen modernen Wissenschaft den Krieg; sie fordert blinde Unterwerfung der Vernunft unter die Dogmen des "unfehlbaren Statthalters Christi". Das Ungeheuerliche und Unerhörte dies brutalen Attentates gegen die höchsten Güter der Kultur-Menschheit rüttelte selbst viele träge und indolente Gemüther aus ihrem gewohnten Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden Verkündigung der päpstlichen Infallibilität (1870) rief die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine energische Abwehr, welche zu den besten Hoffnungen berechtigte. In dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866 und 1871 unter schweren Opfern seine unentbehrliche nationale Einheit errungen hatte, wurden die frechen Attentate des Papismus besonders schwer empfunden; denn einerseits ist Deutschland die Geburtsstätte der Reformation und der modernen Geistesbefreiung; andererseits aber besitzt es leider in seinen 18 Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren Gläubigen, welches an blindem Gehorsam gegen die Befehle seines Oberhirten von keinem anderen Kultur-Volke übertroffen wird. Christus sagt zu Petrus: "Weide meine Schafe!" Die Nachfolger auf dem Stuhle Petri haben das "Weiden" ins "Scheeren" übersetzt. Die hieraus entspringenden Gefahren erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der das "politische Welträthsel" der deutschen National-Zerrissenheit gelöst und und durch bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten Ziele nationaler Einheit und Macht geführt hatte. Fürst Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan aufgedrungenen Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten Kultusminister Falk durch die "Maigesetzgebung" (1873) ebenso klug als energisch geführt wurde. Leider mußte derselbe schon sechs Jahre später aufgegeben werden. Obwohl unser größter Staatsmann ein ausgezeichneter Menschenkenner und kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei gewaltigen Hindernissen unterschätzt; erstens die unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der römischen Kurie, zweitens die entsprechende Gedankenlosigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen, auf welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der Trägheit, des Fortbestehens des Unvernünftigen, bloß weil es da ist. So mußte denn schon 1878, nachdem dem klügere Papst Leo XIII. seine Regierung angetreten hatte, der schwere "Gang nach Canossa" wiederholt werden. Die neu gestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder mächtig zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangen-Windungen seiner aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die falsche Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So müssen wir denn am Schlusse des 19. Jahrhunderts das beschämende Schauspiel erleben, daß das sognannte "Centrum im Deutschen Reichstage Trumpf" ist, und daß die Geschicke unseres gedemüthigten Vaterlandes von einer papistischen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt.

Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer Versuch die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistes-Tyrannei zu befreien; die gesammte liberale Presse feierte Fürst Bismarck als "politischen Luther", als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, sondern auch die geistige Befreiung Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus gesiegt hatte, behauptete dieselbe "liberale Presse" das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasselbe thut sie noch heute. Diese Thatsache beweist nur, wie kurz das Gedächtniß unserer Zeitungsschreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geschichte und wie unvollkommen ihre philosophische Bildung ist. Der sogenannte "Friedensschluß zwischen Staat und Kirche" ist immer nur ein Waffenstillstand. Der moderne Papismus, getreu den absolutistischen, seit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß die Alleinherrschaft über die leichtgläubigen Seelen behaupten; er muß die absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die Rechte der Vernunft und Wissenschaft vertritt. Wirklicher Friede kann erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Entweder siegt die "alleinseligmachende Kirche", und dann hört "freie Wissenschaft und freie Lehre" überhaupt auf; dann werden sich unsere Universitäten in Konvikte, unsere Gymnasien in Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt der moderne Vernunft-Staat, und dann wird sich im 20. Jahrhundert die menschliche Bildung, Freiheit und Wohlstand in noch weit höherem Maaße fortschreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Weise der Fall gewesen ist. (Vergl. hierüber Eduard Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christenthums, 1874).

Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebilde für das menschliche Gemüth herrichtet; eine Palast der Vernunft, in welchem wir mittelst unserer neu gewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre "Dreieinigkeit" des 19. Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieser göttlichen Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor Allem nothwendig, uns mit den herrschenden Religionsformen des Christenthums aus einander zu setzen und die Veränderungen in's Auge zu fassen, welche bei der Ersetzung der letzteren durch die erstere zu erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und Mängel eine so hohen sittlichen Werth, sie ist vor Allem seit anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten socialen und politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß wir uns bei Begründung unserer monistischen Institutionen anlehnen müssen. Wi wollen keine gewaltsame Revolution, sondern eine vernünftige Reformation unseres religiösen Geisteslebens. In ähnlicher Weise nun, wie vor 2000 Jahren die klassische Poesie der alten Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Gestalten verkörperte, können wir auch unseren drei Vernunft-Idealen die Gestalt hehrer Göttinnen verleihen; wir wollen untersuchen, wie die drei Göttinnen der Wahrheit, der Schönheit und der Tugend nach unserem Monismus sich gestalten, und wir wollen ferner ihr Verhältniß zu den entsprechenden Göttern des Christenthums untersuchen, die sie ersetzen sollen.

I. Das Ideal der Wahrheit.

Wir haben uns durch die vorhergehenden Betrachtungen (besonders im ersten und dritten Abschnitt) überzeugt, daß die reine Wahrheit nur in dem Tempel der Natur-Erkenntniß zu finden ist, und daß die einzigen brauchbaren Wege zu demselben die kritische "Beobachtung und Reflexion" sind, die empirische Erforschung der Thatsachen und die vernunftgemäße Erkenntniß ihrer bewirkenden Ursachen. So gelangen wir mittelst der reinen Vernunft zur wahren Wissenschaft, dem kostbarsten Schatze der Kultur-Menschheit. Dagegen müssen wir aus den gewichtigen, im 16. Kapitel erörterten Ursachen jede sogenannte "Offenbarung" ablehnen, jede Glaubens-Dichtung, welche behauptet, auf übernatürlichem Wege Wahrheiten zu erkennen, zu deren Entdeckung unsere Vernunft nicht ausreicht. Da nun das ganze Glaubens-Gebäude der jüdisch-christlichen Religion, ebenso wie das islamische und buddhistische, auf solchen angeblichen Offenbarungen beruht, da ferner diese mysthischen Phantasie-Produkte direkt der klaren empirischen Natur-Erkenntniß widersprechen, so ist es sicher, daß wir die Wahrheit nur mittelst der Vernunft-Thätigkeit der echten Wissenschaft finden können, nicht mittelst der Phantasie-Dichtung des mysthischen Glaubens. In dieser Beziehung ist es ganz sicher, daß die christliche Weltanschauung durch die monistische Philosophie zu ersetzen ist. Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen; - aber nicht in den dumpfen Hallen der Klöster, in den engen Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden christlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herrlichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, sind die liebevolle Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Beobachtung der unendlich großen Sternenwelt mittelst des Teleskops, der unendlich kleinen Zellenwelt mittelst des Mikroskops; - aber nicht sinnlose Andachts-Uebungen und gedankenlose Gebete, nicht die Opfergaben des Ablasses und der Peterspfennige. Die kostbaren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beschenkt, sind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der unschätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, - aber nicht der Glaube an übernatürliche "Wunder" und das Wahngebilde eines "ewigen Lebens".

II. Das Ideal der Tugend.

Anders als mit dem ewig Wahren verhält es sich mit den Gottes-Ideal des ewig Guten. Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der Kirche völlig auszuschließen und allein die Erforschung der Natur zu befragen ist, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den wir Tugend nennen, in unserer monistischen Religion größtentheils mit der christlichen Tugend zusammen; natürlich gilt das nur von dem ursprünglichen, reinen Christenthum der drei ersten Jahrhunderte, wie dessen Tugendlehren in den Evangelien und in den paulinischen Briefen niedergelegt sind; - es gilt aber nicht von der vatikanischen Karikatur jener reinen Lehre, welche die europäische Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf Jahrhunderte beherrscht hat. Den besten Theil der christlichen Moral, an dem wir festhalten, bilden die Humanitäts-Gebote der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hülfe. Nur sind diese edlen Pflichtgebote, die man als "christliche Moral" (im besten Sinne!) zusammenfaßt, keine neuen Erfindungen ders Christenthums, sondern sie sind von diesem aus älteren Religionsformen herübergenommen. In der That ist ja die "Goldene Regel", welche diese Gebote in einem Satze zusammenfaßt, Jahrhunderte älter als das Christenthum. In der Praxis des Lebens aber wurde dieses natürliche Sittengesetz ebenso oft von Atheisten und Nichtchristen sorgsam befolgt als von frommen, gläubigen Christen außer Acht gelassen. Uebrigens beging die christliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem sie einseitig den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen verwarf. Unsere monistische Ethik legt beiden gleichen Werth bei und findet die vollkommene Tugend in dem richtigen Gleichgewicht von Nächstenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Kapitel 19. Das ethische Grundgesetz.)

III. Das Ideal der Schönkeit.

In größten Gegensatz zum Christenthum tritt unser Monismus auf dem Gebiete der Schönheit. Das ursprüngliche, reine Christenthum predigte die Werthlosigkeit des irdischen Lebens und betrachtete dasselbe bloß als eine Vorbereitung für das ewige Leben im "Jenseits". Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das menschliche Leben im "Diesseits" darbietet, alles Schöne in Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Werth besitzt. Der wahre Christ muß sich von ihm abwenden und nur daran denken, sich für das Jenseits würdig vorzubereiten. Die Verachtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerschöpflichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von schöner Kunst sind echte Christen-Pflichten; diese würden am vollkommensten erfüllt, wenn der Mensch sich von seinen Mitmenschen absonderte, sich kasteite und in Klöstern oder Einsiedeleien ausschließlich mit der "Anbetung Gottes" beschäftigte.

Nun lehrt uns freilich die Kulturgeschichte, daß diese asketische Christen-Moral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche Folge das Gegentheil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien; der sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte massenhaft Novellen, wie sie die Literatur der Renaissance sehr naturwahr geschildert hat. Der Kultus der "Schönheit", der hier getrieben wurde, stand mit der gepredigten "Weltentsagung" in schneidendem Widerspruch, und dasselbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche sich bald in dem sittenlosen Privatleben des höheren katholischen Klerus und in der künstlerischen Auschmückung der christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.

Christliche Kunst.

Man wird hier einwenden, daß unsere Ansicht durch die Schönheitsfülle der christlichen Kunst widerlegt werde, welche besonders in der Blüthezeit des Mittelalters so unvergängliche Werke schuf. Die prachtvollen gothischen Dome und byzanthinischen Basilisken, die Hunderte von prächtigen Kapellen, die Tausende von Marmor-Statuen christlicher Heiligen und Märtyrer, die Millionen von schönen Heiligenbildern, von tiefempfundenen Darstellungen von Christus und der Madonna - sie zeugen alle von einer Entwickelung der schönen Künste im Mittelalter, die in ihrer Art einzig ist. Alle diese herrlichen Denkmäler der bildenden Kunst, ebensie wie die der Dichtkunst, behalten ihren hohen ästhetischen Werth, gleichviel, wie wir die darin enthaltene Mischung von "Wahrheit und Dichtung" beurtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen Christenlehre zu thun, mit jener Religion der Entsagung, welche von allem irdischen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und Kunst sich abwendete, welche das Familienleben und die Frauenleibe gering schätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen Güter des "ewigen Lebens" predigte? Der Begriff der "christlichen Kunst" ist eigentlich ein Widerspruch in sich, eine "Contradictio in adjecto". Die reichen Kirchenfürsten freilich, welche dieselbe pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke, und sie erreichten sie auch vollständig. Indem sie das ganze Interesse und Streben des menschlichen Geistes im Mittelalter auf die christliche Kirche und deren eigenthümliche Kunst lenkten, wendeten sie dasselbe von der Natur ab und von der Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu selbstständiger Wissenschaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der tägliche Anblick der überall massenhaft ausgestellten Heiligenbilder, der Darstellungen aus der "heiligen Geschichte", den gläubigen Christen jederzeit an den reichen Sagenschatz, den die Phantasie der Kirche angesammelt hatte. Die Legenden derselben wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeschichten für wirkliche Ereignisse ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in dieser Beziehung die christliche Kunst einen ungeheuren Einfluß auf die allgemeine Bildung und ganz besonders auf die Festigung des Glaubens geübt, einen Einfluß, der sich in der ganzen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.

Monistische Kunst.

Das diametrale Gegenstück dieser herrschenden christlichen Kunst ist diejenige neue Form der bildenden Kunst, die sich erst in unseren Jahrhundert, im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft entwickelt hat. Die überraschende Erweiterung unserer Weltkenntniß, die Entdeckung von unzähligen schönen Lebens-Formen, die wir der letzteren verdanken, hat in unserer Zeit einen ganz anderen ästhetischen Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunst eine neue Richtung gegeben. Zahlreiche wissenschaftliche Reisen und große Expeditionen zur Erforschung unbekannter Länder und Meere förderten schon im 18., noch viel mehr aber im 19. Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organischen Formen zu Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen-Arten wuchs bald in's Unermeßliche, und unter diesen (besonders unter den früher vernachlässigten niederen Gruppen) fanden sich Tausende schöner und interessanter Gestalten, ganz neue Motive für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunstgewerbe. Eine neue Welt erschloß in dieser Beziehung besonders die ausgedehntere mikroskopische Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und namentlich die Entdeckung der fabelhaften Tiefsee-Bewohner, die erst durch die berühmte Challenger-Expedition (1872-1876) an's Licht gezogen wurden. Tausende von zierlichen Radiolarien und Thalamophoren, von prächtigen Medusen und Korallen, von abenteuerlichen Mollusken und Krebsen eröffneten uns da mit einem Male eine ungeahnte Fülle von verborgenen Formen, deren eigenartige Schönheit und Mannigfaltigkeit alle von der menschlichen Phantasie geschaffenen Kunstprodukte weitaus übertrifft. Allein schon in den 50 großen Bänden des Challenger-Werkes ist auf 3000 Tafeln eine Masse solcher schöner Gestalten abgebildet; aber auch in vielen anderen großen Prachtwerken, welche die mächtig wachsende zoologische und botanische Literatur der letzten Decennien enthält, sind Millionen reizender Formen dargestellt. Ich habe kürzlich den Versuch begonnen, in meinen "Kunstformen der Natur" (1899) eine Auswahl von solchen schönen und reizvollen Gestalten weiteren Kreisen zugänglich zu machen.

Indessen bedarf es nicht weiter Reisen und kostspieliger Werke, um jedem Menschen die Herrlichkeiten dieser Welt zu erschließen. Vielmehr müssen dafür nur seine Augen geöffnet und sein Sinn geübt werden. Ueberall bietet die umgebende Natur eine überreiche Fülle von schönen und interessanten Objekten aller Art. In jedem Moose und Grashalme, in jedem Käfer und Schmetterling finden wir bei genauer Untersuchung Schönheiten, an denen der Mensch gewöhnlich achtlos vorübergeht. Vollends wenn wir dieselben mit einer Lupe bei schwacher Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn wir die stärkere Vergrößerung eines guten Mikroskopes anwenden, entdecken wir überall in der organischen Natur eine neue Welt voll unerschöpflicher Reize.

Aber nicht nur für diese ästhetische Betrachtung des Kleinen und Kleinsten, sondern auch für diejenige des Großen und Größten in der Natur hat uns erst das 19. Jahrhundert die Augen geöffnet. Noch im Beginne desselben war die Ansicht herrschend, daß die Hochgebirgsnatur zwar großartig, aber furchtbar sei. Jetzt, am Ende desselben, sind die meisten Gebildeten - und besonders die Bewohner der Großstädte - glücklich, wenn sie jährlich auf ein paar Wochen die Herrlichkeit der Alpen und die Krystallpracht der Gletscher genießen können; oder wenn sie sich an der Majestät des blauen Meeres, an den reizenden Landschaftbildern seiner Küsten erfreuen können. Alle diese Quellen edelsten Naturgenusses sind uns erst neuerdings in ihrer ganzen Herrlichkeit offenbar und verständlich geworden, und die erstaunlich gesteigerte Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verkehrs hat selbst den Unbemittelteren die Gelegenheit zu ihrer Kenntniß verschafft. Alle diese Fortschritte im ästhetischen Naturgenusse - und damit zugleich im wissenschaftlichen Naturverständniß - bedeuten ebenso viele Fortschritte in der höheren menschlichen Geistesbildung und damit zugleich in unserer monistischen Religion.

Landschaftsmalerei und Illustrations-Werke.

Der Gegensatz, in welchem unser naturalistisches Jahrhundert zu den vorhergehenden anthropistishcen steht, prägt sich besonders in der verschiedenen Werthschätzung und Verbreitung von Illustrationen der mannigfaltigsten Natur-Objekte aus. Es hat sich in unserer Zeit ein lebhaftes Interesse für bildliche Darstellungen derselben entwickelt, das früheren Zeiten unbekannt war; dasselbe wird unterstützt durch die erstaunlichen Fortschritte der Technik und des Verkehrs, welche eine allgemeine Verbreitung derselben in weitesten Kreisen gestatten. Zahlreiche illustrierte Zeitschriften verbreiten mit der allgemeinen Bildung zugleich den Sinn für die unendliche Schönheit der Natur in allen Gebieten. Besonders in der Landschaftsmalerei, die hier eine früher nicht geahnte Bedeutung gewonnen hat. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte einer unserer größten und vielseitigsten Naturforscher, Alexander Humboldt, darauf hingewiesen, wie die Entwickelung der modernen Landschaftmalerei nicht nur als "Anregungs-Mittel zum Natur-Studium" und als geographisches Anschauungs-Mittel von hoher Bedeutung sei, sondern wie sie auch in anderer Beziehung als ein edles Bildungsmittel hochzuschätzen sei. Seitdem ist der Sinn dafür noch bedeutend weiter entwickelt. Es sollte Aufgabe jeder Schule sein, die Kinder frühzeitig zum Genusse der Landschaft anzuleiten und zu der höchst dankbaren Kunst, sie durch Zeichnen und Aquarell-Malen ihrem Gedächtniß einzuprägen.

Moderner Naturgenuß.

Der unendliche Reichthum der Natur an Schönem und Erhabenem bietet jedem Menschen, der offene Augen und ästhetischen Sinn besitzt, eine unerschöpfliche Fülle der herrlichsten Gaben. So werthvoll und beglückend aber auch der unmittelbare Genuß jeder einzelnen Gabe ist, so wird deren Werth doch noch hoch gesteigert durch die Erkenntniß ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhanges mit der übrigen Natur. Als Alexander Humboldt vor fünfzig Jahren in seinem großartigen "Kosmos" den "Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" gab, als er in seinen mustergültigen "Ansichten der Natur" wissenschaftliche und ästhetische Betrachtung in glücklichster Weise verband, da hat er mit Recht hervorgehoben, wie eng der veredelte Naturgenuß mit der "wissenschafltichen Ergründung der Weltgesetze", verknüpft ist, und wie beide vereinigt dazu dienen, das Menschenwesen auf eine höhere Stufe der Vollendung zu erheben. Die staunende Bewunderung, mit der wir den gestirnten Himmel und das mikroskopische Leben in einem Wassertropfen betrachten, die Ehrfurcht, mit der wir das wunderbare Wirken der Energie in der bewegten Materie untersuchen, die Andacht, mit welcher wir die Geltung des allumfassenden Substanz-Gesetzes im Universum verehren, - sie alle sind Bestandtheile unseres Gemüths-Lebens, die unter den Begriff der "natürlichen Religion" fallen.

Diesseits und Jenseits.

Die angedeuteten Fortschritte in der Erkenntniß des Wahren und im Genusse des Schönen bilden ebenso einerseits einen werthvollen Inhalt unserer monistischen Religion, als sie andererseits in feindlichem Gegensatze zum Christenthum stehen. Denn der menschliche Geist lebt dort in dem bekannten "Diesseits", hier in einem unbekannten "Jenseits". Unser Monismus lehrt, daß wir sterbliche Kinder der Erde sind, die ein oder zwei, höchstens drei "Menschenalter" hindurch das Glück haben, im Diesseits die Herrlichkeiten dieses Planeten zu genießen, die unerschöpfliche Fülle seiner Schönheit zu schauen und die wunderbaren Spiele seiner Naturkräfte zu erkennen. Das Christenthum dagegen lehrt, daß die Erde ein elendes Jammerthal ist, auf welchem wir bloß eine kurze Zeit lang uns zu kasteien und abzuquälen brauchen, um sodann im "Jenseits" ein ewiges Leben voller Wonne zu genießen. Wo dieses "Jenseits" liegt, und wie diese Herrlichkeit des ewigen Lebens eigentlich beschaffen sein soll, das hat uns noch keine "Offenbarung" gesagt. Solange der "Himmel" für den Menschen ein blaues Zelt war, ausgespannt über der scheibenförmigen Erde und erleuchtet durch das blinkende Lampenlicht einiger tausend Sterne, konnte sich die menschliche Phantasie oben in diesem Himmelssaal allenfalls das ambrosiche Gastmahl der olympischen Götter oder die Tafel-Freuden der Walhalla-Bewohner vorstellen. Nun ist neuerdings für alle diese Gottheiten und für die mit ihnen tafelnden "unsterblichen Seelen" die offenkundige, von David Strauß geschilderte Wohnungsnoth eingetreten; den wir wissen jetzt durch die Astrophysik, daß der unendliche Raum mit ungenießbarem Aether erfüllt ist, und das Millionen von Weltkörpern, nach ewigen Gesetzen bewegt, sich rastlos in demselben umhertreiben, alle im ewigen großen "Werden und Vergehen" begriffen.

Monistische Kirchen.

Die Stätten der Andacht, in denen der Mensch sein religiöses Gemüths-Bedürfniß befriedigt und die Gegenstände seiner Anbetung verehrt, betrachtet er als seine geheiligten "Kirchen". Die Pagoden im buddhistischen Asien, die griechischen Tempel im klassischen Alterthum, die Synagogen in Palästina, die Moscheen in Egypten, die katholischen Dome im südlichen und die evangelischen Kathedralen im nördlichen Europa - alle diese "Gotteshäuser" sollen dazu dienen, den Menschen über die Misere und Prosa des realen Alltagslebens zu erheben; sie sollen ihn in die Weihe und die Poesie einer höheren, idealen Welt versetzen. Sie erfüllen diesen Zweck in vielen tausend verschiedenen Formen, entsprechend den verschiedenen Kulturformen und Zeitverhältnissen. Der moderne Mensch, welcher "Wissenschaft und Kunst" besitzt - und damit zugleich auch Religion -, bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen, eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Theil desselben richtet, überall findet er zwar den harten "Kampf um's Dasein", aber daneben auch das "Wahre, Schöne und Gute"; überall findet er seine "Kirche" in der herrlichen Natur selbst. Indessen wird es doch den besonderen Bedürfnissen vieler Menschen entsprechen, auch außerdem in schön geschmückten Tempeln oder Kirchen geschlossene Andachtshäuser zu besitzen, in die sie sich zurückziehen können. Ebenso, wie seit dem 16. Jahrhundert der Papismus zahlreiche Kirchen an die Reformation abtreten mußte, wird im 20. Jahrhundert ein großer Theil derselben an die "freien Gemeinden" des Monismus übergeben.


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