Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber

Anmerkungen und Erläuterungen

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1) Kosmologische Perspektive

(S. 11). Der geringe Spielraum, welchen unser menschliches Vorstellungsvermögen uns bei Beurtheilung großer Dimensionen in Raum und Zeit gestattet, ist ebenso eine reiche Fehlerquelle von anthropistischen Illusionen wie ein mächtiges Hinderniß der geläuterten monistischen Weltanschauung. Um sich der unendlichen Weltdehnung des Raumes bewußt zu werden, muß man einerseits bedenken, daß die kleinsten sichtbaren Organismen (Bakerien) riesengroß sind gegenüber den unsichtbaren Atomen und Molekeln, welche weit jenseits der Sichtbarheit auch bei Anwendung der stärksten Mikroskope liegen; andererseits muß man die unbegrenzten Dimensionen des Weltraumes erwägen, in welchem unser Sonnen-System nur den Werth eines einzelnen Fixsternes hat und unsere Erde nur einen winzigen Planeten der mächtigen Sonne darstellt. - In entsprechender Weise werden wir uns der unendlichen Ausdehnung der Zeit bewußt, wenn wir uns einerseits an die physikalischen und physiologischen Bewegungen erinnern, die innerhalb einer Sekunde sich abspielen, and andererseits an die ungeheuere Länge der Zeiträume, welche die Entwickelung der Weltkörper in Anspruch nimmt. Selbst der verhältnißmäßig kurze Zeitraum der "organischen Erdgeschichte" (innerhalb deren das organische Leben auf userem Erdball sich entwickelt hat) umfaßt nach neueren Berechnungen weit über hundert Millionen Jahre, d. h. mehr als 100 000 Jahrtausende!

Allerdings lassen die geologischen und paläontologischen Thatsachen, auf welche sich diese Berechnungen gründen, nur sehr unsichere und schwankende Zahlen-Angaben zu. Während wohl die meisten sachkundigen Autoritäten gegenwärtig für die Länge der organischen Erdgeschichtee 100-200 Millionen Jahre annehmen, beläuft sich dieselbe nach anderen Schätzungen nur auf 25-50 Millionen; nach einer genauen geologischen Berechnung der neuesten Zeit auf mindestens vierzehnhundert Jahrmillionen. Vergl. meinen Cambridge-Vortrag über den Ursprung des Menschen, 1898, S. 51: "Wenn wir aber auch ganz außer Stande sind, die absolute Länge der phylogenetischen Zeiträume annähernd sicher zu bestimmen, so besitzen wir dagegen andererseits sehr wohl die Mittel, die relative Länge derselben ungefähr abzuschätzen. Nehmen wir hundert Millionen Jahre als Minimal-Zahlen, so würden sich dieselben auf die fünf Hauptperioden der organischen Geschichte etwa folgendermaßen vertheilen:

  1. Archozoische Periode (Primordial-Zeit), vom Beginn des organischen Lebens bis zum Ende der kambrischen Schichtenbildung; Zeitalter der Schädellosen. - 52 Millionen,

  2. Paläozoische Periode (Primär-Zeit), vom Beginn der silurischen bis zum Ende der permischen Schichtenbildung; Zeitalter der Fische. - 34 Millionen,

  3. Mesozoische Periode (Sekundär-Zeit), vom Beginn der Trias-Periode bis zum Ende der Kreide Periode; Zeitalter der Reptilien. - 11 Millionen,

  4. Cänozoische Periode (Tertiär-Zeit), vom Beginn der eocänen bis zum Ende der pliocänen Periode; Zeitalter der Säugethiere. - 3 Millionen,

  5. Anthropozoische Periode (Quartär-Zeit), vom Beginn der Diluvial-Zeit (in welchen wahrscheinlich die Entwickelung der menschlichen Sprache fällt) bis zur Gegenwart; Zeitalter des Menschen, mindestens 100 000 Jahre = 0,1 Million.

Um die ungeheuere Länge dieser phylogenetischen Zeiträume dem menschlichen Auffassungs-Vermögen näher zu bringen und namentlich die relative Kürze der sogenannten "Weltgeschichte" (d. h. der Geschichte der Kulturvölker!) zum Bewußtsein zu bringen, hat kürzlich einer meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), die angenommene Minimal-Zahl von hundert Jahr-Millionen durch chronometrische Reduktion auf einen Tag projicirt. Durch diese "verjüngende Projektion" vertheilen sich die 24 Stunden des "Schöpfungs-Tages" folgendermaßen auf die fünf phylogenetishen Perioden;

  1. Archozoische Periode (52 Jahrmillionen) = 12 St. 30 Min. (= von Mitternacht bis 1/2 1 Uhr Mittags).

  2. Paläozoische Periode (34 Jahrmillionen) = 8 St. 5 Min. (von 1/2 1 Uhr Mittags bis 1/2 9 Uhr Abends).

  3. Mesozoische Periode (11 Jahrmillionen) = 2 St. 38 Min. (von 1/2 9 Uhr bis 1/4 12 Uhr Abends).

  4. Cänozoische Periode (3 Jahrmillionen) = 43 Min. (von 1/4 12 Uhr Abends bis 2 Min. vor Mitternacht).

  5. Anthropozoische Periode (0,1-0,2 Jahrmillionen) = 2 Min.

  6. Kultur-Periode, sogenannte "Weltgeschichte" (6000 Jahre) = 5 Sek.

Wenn man also nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht die Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organischen Entwickelung auf unserem Erdball annimmt und diese auf 24 Stunden projicirt, so beträgt davon die sogenannte "Weltgeschichte" nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899, {Nr. 492, S. 381}).

2) Neovitalismus

(S. 22). Nachdem die mystische Lehre von der übernatürlichen "Lebenskraft" durch den Darwinismus ihren Todesstoß erhalten hatte und bereits vor zwanzig Jahren glücklich überwunden schien, ist dieselbe neuerdings wieder aufgelebt und hat sogar im letzten Decennium zahlreiche Anhänger wieder gewonnen. Der Physiologie Bunge, der Pathologie Rindfleisch, der Botaniker Reinke u. A. haben den wiedererstandenen Wunderglauben an die immaterielle und intellektuelle Lebenskraft mit großem Erfolg vertheidigt. Den größten Eifer haben dabei einige meiner früheren Schüler bewiesen. Diese "modernsten" Naturforscher sind zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Entwickelungslehre und insbesondere der Darwinismus eine haltlose Irrlehre ist, und daß "Geschichte überhaupt keine Wissenschaft" ist. Einer derselben hat sogar die Diagnose gestellt, daß "alle Darwinisten an Gehirnerweichung leiden". Da nun trotz des Neovitalismus die große Mehrzahl der modernen Naturforscher (wohl mehr als neun Zehntel!) in der Entwickelungslehre den größten Fortschritt der Biologie in unserem Jahrhundert erblickt, wird man wohl diese bedauerliche Thatsache durch eine furchtbare cerebrale Epidemie erklären müssen. Alle diese albernen Verdammungsurtheile von Seiten unklarer und einseitig gebildeter Specialisten schaden unserer modernen Entwickelungslehre und Geschichtswissenschaft ebenso wenig die die Bannflüche des Papstes.

Der Neovitalismus wird in seiner ganzen Dürftigkeit und Haltlosigkeit klar, wenn man ihn den Thatsachen der Geschichte in der ganzen organischen Welt gegenüberstellt. Diese historischen Thatsachen der "Entwickelungsgeschichte" im weitesten Sinne, die Fundamente der Geologie, der Paläontologie, der Ontogenie u. s. w. sind in ihrem natürlichen Zusammenhang nur durch unseres monistische Entwickelungslehre erklärbar, und diese verträgt sich weder mit dem alten noch mit dem neuen Vitalismus. Daß gerade jetzt der letztere an Ausdehnung gewinnt, erklärt sich zum Theil auch aus der bedauerlichen Thatsache der allgemeinen Reaktion im geistigen und politischen Leben, welche das letzte Decennium des neunzehnten Jahrhunderts vor demjenigen des achtzehnten in höchst unvorteilhafter Weise auszeichnet. In Deutschland insbesondere hat der sogenannte "neue Kurs" höchst depravirende byzantinische Zustände nicht nur im politischen und kirchlichen Leben, sondern auch in Kunst und Wissenschaft hervorgerufen. Indessen bedeutet diese moderne Reaktion im Großen und Ganzen doch nur eine vorübergehende Episode.

3) Teleologie von Kant

(S. 105). Durch die erstaunlichen Fortschritte der modernen Biologie ist die teleologische Naturerklärung von Kant vollkommen widerlegt worden. Die Physiologie hat inzwischen den Beweis geführt, daß alle Lebenserscheinungen auf chemische und physikalische Processe zurückzuführen sind, und daß es zu ihrer Erklärung weder eines persönlichen Schöpfers als Werkmeister noch einer räthselhaften, zweckmäßig bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt, daß alle verwickelten Lebensthätigkeiten der höheren Thiere und Pflanzen von den einfachen physikalisch-chemischen Vorgängen im Elementar-Organismus der mikroskopischen Zellen abzuleiten sind, und daß die matierelle Grundlage derselben das Plasma des Zellenleibes ist. Das gilt ebenso von den Erscheinungen des Wachsthums und der Ernährung wie von denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das biogenetische Grundgesetz lehrt uns, daß die räthselhaften Erscheinungen der Keimesgeschichte (die Entwickelung der Embryonen wie die Verwandelung der Jugendformen) auf Vererbung von entsprechenden Vorgängen in der Stammesgeschichte der Ahnen beruhen. Die Descendenz-Theorie aber hat das Räthsel gelöst, wie die Vorgänge in dieser Stammesgeschichte, die physiologischen Thätigkeiten der Vererbung und Anpassung, im Laufe langer Zeiträume einen beständigen Wechsel der Artformen, eine langsame Transformation der Species bedingen. Die Selektions-Theorie endlich führt den klaren Nachweis, wie bei diesen phylogenetischen Vorgängen die zweckmäßigsten Einrichtungen entstehen. Darwin hat damit ein mechanisches Erklärungs-Princip der organischen Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches schon vor mehr als 2000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er ist damit der "Newton der organischen Natur" geworden, dessen Möglichkeit Kant entschieden bestritten hatte.

Diese historischen Verhältnisse, die ich schon vor 30 Jahren (im fünften Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeschichte) hervorgehoben hatte, sind so interessant und wichtig, daß ich sie hier nochmals betonen wollte. Es erscheint dies nicht nur deshalb angemessen, weil die moderne Philosophie mit besonderem Nachdruck den "Rückgang auf Kant" verlangt, sondern auch weil daraus hervorgeht, daß selbst die größten Metaphysiker blind in schwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigsten Fragen verfallen können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der "kritischen Philosophie", erklärt mit größter Bestimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung für "ungereimt", welche schon 70 Jahre später von Darwin thatsächlich gemacht wurde, und er spricht dem Menschengeiste für alle Zeit eine bedeutungsvolle Einsicht ab, welche derselbe durch die Selektions-Theorie des Letzteren thatsächlich erlangte. Man sieht, wie gefährlich das kategorische "Ignorabimus" ist!

Angesichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren Deutschen Philosophie gezollt wird, und welche bei vielen "Neu-Kantianern" in eine unbedingte, abgöttische Anbetung übergeht, wird es uns gestattet sein, hier die menschlichen Unvollkommenheiten des großen Königsbergers Philosophen zu beleuchten und verhängnißvollen Schwächen seiner "kritischen" Weltweisheit. Seine dualistische, mit den Jahren immer zunehmende Richtung zur transcendentalen Metaphysik war bei Kant schon durch die mangelhafte und einseitige Vorbildung auf der Schule und der Universität bedingt. Seine dort erlangte akademische Bildung war überwiegend philologisch, theologisch und mathematisch; von den Naturwissenschaften lernte er nur Astronomie und Physik gründlich kennen, zum Theil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite Gebiet der Biologie, selbst in dem bescheidenen Umfange der damaligen Zeit, größtentheils unbekannt. Von den organischen Naturwissenschaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Physiologie studiert; daher blieb auch seine Anthropologie, mit der er sich lange Zeit beschäftigte, höchst unvollkommen. Hätte Kant statt Philologie und Theologie mehrere Jahre Medizin studiert, hätte er sich in den Vorlesungen Anatomie und Physiologie eine gründliche Kenntniß des menschlichen Organismus, in dem Besuche der Kliniken eine lebendige Abbildung von dessen pathologischen Veränderungen angeeignet, so würde nicht nur die Anthropologie, sondern die gesammte Weltanschauung des "kritischen" Philosophen eine ganz andere Form gewonnen haben. Kant würde sich dann nicht so leichten Herzens über die wichtigsten, schon damals bekannten biologischen Thatsachen hinweggesetzt haben, wie es in seinen späteren Schriften (seit 1769) geschah.

Nach Vollendung seiner Universtäts-Studien mußte Kant sich neun Jahre hindurch sein Brod als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebensjahre, also gerade in jener wichtigsten Periode des Jünglings-Lebens, in welcher nach aufgenommener akademischer Bildung die selbstständige Entwickelung des persönlichen und wissenschaftlichen Charakters für das ganze folgende Leben sich entscheidet. Hätte Kant, der den größten Theil seines Lebens in Königsberg fest saß und niemals die Grenzen der Provinz Preußen überschritt, damals größere Reisen ausgeführt, hätte er seinem lebhaften geographischen und anthropologischen Interesse durch reale Anschauungen lebendige Nahrung zugeführt, so würde diese Erweiterung seines Gesichtskreises auf die Gestaltung seiner idealen Weltanschauung sicher in höchst wohlthätiger Weise eingewirkt haben. Auch der Umstand, daß Kant niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei anderen philosophierenden Junggesellen als Entschuldigung für mangelhafte und einseitige Bildung angesehen werden. Denn der weibliche und der männliche Mensch sind zwei wesentlich verschiedene Organismen, die erst in ihrer gegenseitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-Begriffs "Mensch" ausgestalten.

4) Kritik der Evangelien

(S. 125). S. E. Verus, Vergleichende Uebersicht (Vollständige Synopsis) der vier Evangelien in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlußwort: "Jede Schrift muß aus dem Geist ihrer Zeit verstanden und beurtheilt werden. Die "Evangelien"-Dichtungen entstammen einer ganz unwissenschaftlichen Zeit und Kreisen voll rohen Aberglaubens; sie sind für ihre Zeit, nicht für die gegenwärtige oder gar für "alle Zeiten" geschrieben worden, aber auch nicht als Geschichtsbücher, sondern als Erbauungschriften, zum Theil als kirchliche Streitschriften. Nur das Interesse der Kirche, ihrer Priesterschaft und der mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Einrichtungen verlangte es, den Ursprung jener Schriften auf "Apostel" (Matthäus, Johannes) oder "Apostelschüler" (Markus, Lukas) zurückzuführen, und reicht allein schon hin, auf ganz einfache natürliche Weise ihr Jahrhunderte lang fortbestehendes Ansehen zu erklären, das man gern auf übernatürliche Einflüsse zurückzuführen pflegt.

"Die ursprüngliche Form dieser Dichtungen hat in den ersten Jahrhunderten mannigfache Veränderungen erlitten und ist gegenwärtig nicht mehr festzustellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Testaments hat sich nur sehr langsam gebildet, und über ihre Anerkennung ist zum Theil erst nach Jahrhunderten ein Einverständniß erzielt worde. Alles, was an Glaubenssatzungen aus den Schriften jener kritiklosen Zeit hergeleitet wird wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht bewußter Fälschung.

"Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter (Messias) gehofft. So begrüßt Jesaias 45 1, nach Ablauf der babylonischen Gefangenschaft (597-538), den Perserkönig Cyrus (einen Nichtjuden), der dem Volke die Freiheit schenkte, als Messias. Ein Hoherpriester Josua führte die Juden in die Heimath zurück, und die Sage schuf einen älteren Josua, der als "Moses" Nachfolger sein Volk nach Kanaan gebracht hätte. Nach der Zerstörung Jerusalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte Jude Josephus, der Menschheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der nicht von Menschenhänden gebaut sei, und sah in Kaiser Vespasian einen Messias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem "Weltheiland", und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von "Messiassen" auf. Zu jenen beiden Josuas schuf das poetisch thätige Volksgemüth einen dritten Josua (griechisch Jesus).

"Das Leben eines solchen, besonders eines schwärmerisch angelegten Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes war nicht eben allzu schwer zu beschreiben: Erlebnisse, Thaten, Reden lieferten (von den damals im Morgenlange seit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Krischna- und Buddha-Sagen ganz abgesehen) Vorbilder des Alten Testaments; ein Moses, ein Elias, ein Elisa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte, Worte der Psalmen und Propheten. Vielfach nahmen dabei die Verfasser bildlich Gemeintes buchstäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt so ziemlich Alles, auch das Wunderlichste, buchstäblich genommen haben will.

"Das Bild des Messias gestaltete sich ganz allmählich aus. In den nachweislich vor den "Evangelien"-Dichtungen entstandenen "Paulus"-Briefen findet sich von ihm nichts als Tod und Auferstehung. Aus wörtlich aufgefaßten Prophetenstellen dichtete man dann Lehre und Heilthätigkeit hinzu. Zuletzt erst fragte man sich: wo, wie, von wem ist er geboren? wie lange hat er gelebt? u. A. Sobald einmal das Beispiel einer solchen Dichtung (wie die später "Nach Markus", dann "Evangelium nach Markus" genannte) gegeben war, ergoß sich eine Flut ähnlicher Dichtungen, zum Theil geschmackloser Zerrbilder, zum Theil in den Grenzen einer Art Möglichkeit gehaltener Lebensbilder. Jede Gegend, ja jede bedeutendere Gemeinde hatte ihr Evangelium, und oft nannte sich dieses nach einem bekannt gewordenen Namen; unter solchen fremden Namen zu schreiben, galt für durchaus erlaubt.

"Diese "Evangelien"-Dichtungen versetzen ihren Helden in die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Aber weder jüdische Schriftsteller (wie Philo und Josephus) noch römische und griechische (wie Tacitus, Sueton, Plinius, Dio Cassius) dieser und der nächstfolgenden Zeit kennen einen solchen "Jesus von Nazaret" oder die aus seinem Leben erzählten Vorfälle; ja nicht einmal eine Stadt Nazareth ist bekannt."

5) Christus und Buddha

(S. 131). Dem ausgezeichneten Werke von S. E. Verus: "Vergleichende Uebersicht der vier Evangelien" (Einzig vorhandene Quelle für ein Leben Jesu, Leipzig 1897) entnehme ich folgende Mittheilung: "Professor Rudolf Seydel hat in mehreren fleißigen Arbeiten, die auch von namhaften theologischen Gelehrten, wie Professor Pfleiderer, anerkannt werden, die "Evangelien-Dichtungen" mit den verschiedenen, nachweislich vor unserer Zeitrechnung entstandenen indischen und chinesischen Lebensbeschreibungen Buddhas verglichen und Folgendes als zweifellos festgestellt: Die Grundlage des Lebens der beiden "Religionsstifter" bildet ein belehrendes und heilendes Wanderleben, meist in Begleitung von Schülern, bisweilen unterbrochen von Ruhepausen (Gastmäler, Wüsteneinsamkeit); daneben Predigten auf Bergen und Aufenthalt in der Hauptstadt nach feierlichem Einzuge. Aber auch in vielen Einzelheiten und ihrer Reihenfolge zeigt sich eine überraschende Uebereinstimmung.

"Buddha ist ein fleischgewordener Gott, als Mensch königlicher Abkunft. Er wird auf übernatürliche Weise gezeugt und geboren, seine Geburt auf wunderbare Weise vorher verkündet. Götter und Könige huldigen dem Neugeborenen und bringen Geschenke dar. Ein alter Brahmane erkennt in ihm sofort den Erlöser von allen Uebeln. Friede und Freude zieht auf Erden ein. Der junge Buddha wird verfolgt und wunderbar gerettet, feierlich im Tempel dargestellt, als zwölfjähriger Knabe von den Eltern mit Sorgen gesucht und mitten unter Priestern wiedergefunden. Er ist frühreif, übertrifft seine Lehrer und nimmt zu an Alter und Weisheit. Er fastet und wird versucht. Er nimmt ein Weihebad im heiligen Flusse. Einzelne Schüler eines weisen Brahmanen gehen zu ihm über. Berufungswort ist "Folge mir". Einen Schüler weiht er nach indischem Brauch unter einem Feigenbaum. Unter den Zwölfen sind drei Musterschüler und einer ein ungerathener. Die früheren Namen der Schüler werden geändert. Daneben findet sich ein weiterer Kreis von achtzig Schülern. Buddha sendet seine Schüler, mit Unterweisungen versehen, zwei und zwei aus. Ein Mädchen aus dem Volke preist seine Mutter selig. Ein reicher Brahmane möchte ihm folgen, kann sich aber nicht von seinen Gütern trennen; ein anderer besucht ihn Nachts. Seiner Familie gilt er nichts; er findet aber bei Vornehmen und bei Frauen Anhang.

"Buddha tritt als Lehrer mit Seligpreisungen auf; besonders spricht er in Gleichnissen. Seine Lehren zeigen (oft sogar in der Wahl der Worte) überraschende Aehnlichkeit; er lehnt Wunder ab, verachtet irdische Güter, empfiehlt Demut, Friedfertigkeit, Feindesliebe, Selbsterniedrigung und Selbstüberwindung, ja Enthaltung von geschlechtlichem Verkehr. Er lehrt auch sein Vordasein. In seinen Todesahnungen betont er, daß er heim, in den Himmel gehe, und in den Abschiedsreden ermahnt er die Schüler, verheißt ihnen einen Fürsprech ("Tröster") und weist auf eine allgemeine Weltzerstörung hin. Heimatlos und arm zieht er umher, als Arzt, Heiland, Erlöser. Die Gegner werfen ihm vor, daß er die Gesellschaft der "Sünder" bevorzuge. Noch kurze Zeit vor seinem Tode ist er bei einer "Sünderin" zu Gast geladen. Ein Schüler bekehrt ein Mädchen aus verachteter Klasse an einem Brunnen. Zahlreiche Wunder bestätigen seine Gottheit (er wandelt auf dem Wasser u. a.). Feierlich zieht er in die Residenz ein und stirbt unter Wunderzeichen: die Erde bebt, die Enden der Welt stehen in Flammen, die Sonne erlischt, ein Meteor fällt vom Himmel. Auch Buddha fährt zur Hölle und zum Himmel".


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