Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1929)

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176 9. Die verschiebenden Kräfte.

müssen." Dagegen glaubt Epstein die Frage, ob auch die äquatorialen Faltengebirge auf diese Kraft zurückgeführt werden können, verneinen zu müssen, da diese nur einem Oberflächengefälle von 10 bis 20 m zwischen Pol und Äquator entspricht, während die Auftürmung der Gebirge zu Höhen von mehreren Kilometern und die entsprechende Versenkung sialischer Massen in große Tiefen eine bedeutende Arbeit gegen die Schwerkraft darstellt, für welche die Polfluchtkraft nicht reicht. Diese würde nur Berge von 10 bis 20 m Höhe schaffen können.

Fast gleichzeitig mit Epstein hat auch W. D. Lambert [202] die Polfluchtkraft mathematisch abgeleitet, im wesentlichen mit dem gleichen Ergebnis wie Epstein. Er findet die Kraft in 45° Breite gleich einem Dreimillionstel der Schwere. Da die Kraft in dieser Breite ihren größten Betrag erreicht, so muß sie auf einen länglichen, schräg liegenden Kontinent auch drehend wirken, und zwar wird sie zwischen dem Äquator und 45° Breite bestrebt sein, seine Längsachse in die Ostwestrichtung zu bringen, zwischen 45° und dem Pol dagegen in die Meridianrichtung. „Alles dies ist natürlich ganz spekulativ; es basiert auf der Hypothese von schwimmenden Kontinentalschollen und auf der Annahme eines tragenden Magmas, welches natürlich eine zähe Flüssigkeit sein wird, aber zäh im Sinne der klassischen Zähigkeitstheorie. Nach der klassischen Theorie wird eine Flüssigkeit, gleichviel wie zäh sie sei, ausweichen vor einer Kraft, gleichviel wie klein sie sei, sofern letzterer nur genügend Zeit gegeben ist, zu wirken. Die Eigentümlichkeiten des irdischen Gravitationsfeldes liefern uns sehr kleine Kräfte, wie wir gesehen haben, und die Geologen werden uns zweifellos gestatten, äonenlange Zeiten für die Wirkung dieser Kräfte anzunehmen, aber die Zähigkeit der Flüssigkeit kann von anderer Art sein, als die klassische Theorie fordert, so daß die wirkenden Kräfte erst einen gewissen Grenzbetrag überschreiten müssen, bevor die Flüssigkeit vor ihnen ausweicht, gleichgültig, wie lange die kleine fragliche Kraft wirken möge. Die Frage der Zähigkeit ist eine recht verwickelte, denn die klassische Theorie gibt für manche Beobachtungstatsachen keine angemessene Erklärung, und unsere gegenwärtigen Kenntnisse gestatten es uns nicht, sehr dogmatisch zu sein. Die Polfluchtkraft ist vorhanden, aber ob sie in geologischen Zeiten einen nennenswerten Einfluß auf die Position und Konfiguration unserer Kontinente gehabt hat, diese Frage müssen die Geologen entscheiden."


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen, Bearbeitung und OCR durch Kurt Stüber, Oktober 2003.
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© Kurt Stueber, 2003