Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1929)

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9. Die verschiebenden Kräfte. 173

zu entscheiden, nach welcher Seite der Faden läuft, d. h. was Ursache und was Wirkung ist. Es ist ja von vornherein klar, daß für die Kräftefrage der ganze Komplex von Kontinentverschiebungen, Krustenwanderungen, Polwanderungen, internen und astronomischen Achsenverlagerungen ein zusammenhängendes Problem bildet.

Bisher ist erst eine einzige Teilfrage gelöst und über einige andere sind Vermutungen aufgestellt worden.

Für die Frage nach den Kräften sind zunächst jene Bewegungen von besonderem Interesse, die wir oben als Krustenwanderungen bezeichnet haben, d. h. Verschiebungen der Kontinentalschollen relativ zu ihrer Unterlage, da diese, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, als direkte Wirkung von Verschiebungskräften aufzufassen sind, die an den Kontinentalschollen angreifen, aber in dem darunterliegenden Material entweder gar nicht oder doch schwächer wirken.

Auf eine große Zahl von Einzelheiten, die von diesen beiden Bewegungen zeugen, war schon früher hingewiesen. Am unmittelbarsten fällt die Westwanderung der Kontinentalschollen im heutigen Kartenbild der Erde in die Augen. Die Polflucht ist bei älteren Bewegungen großenteils durch die heutige geänderte Pollage verschleiert und tritt erst nach Rekonstruktion der damaligen Pollage richtig hervor. Aber sie äußert sich schon in ganz großen Zügen durch die Aufspaltung der Kontinentalschollen in den Polargebieten und ihren Zusammenschub am Äquator. So war der permokarbone Vorstoß des Südpols nach Afrika begleitet von der karbonischen Faltung längs des damaligen Äquators und gefolgt von einer Zerspaltung und Auseinanderziehung des Gondwanalandes; und ganz ebenso war der tertiäre Vorstoß des Nordpols, der früher im Pazifik lag, in die Landmassen des heutigen Nordpolargebiets hinein begleitet von der tertiären Faltung längs des damaligen Äquators (Alpen—Himalaja) und wurde und wird noch gefolgt von einer zunehmenden Zerspaltung und Auseinanderziehung der Nordkontinente.

Die einzige Verschiebungskraft, die man gegenwärtig genauer kennt, ist die Polfluchtkraft, die bestrebt ist, die Kontinente relativ zu ihrer Unterlage äquatorwärts zu treiben. Ihre Existenz ist von Eötvös schon 1913 in einer freilich damals unbeachtet gebliebenen Bemerkung [199] ausgesprochen worden. Er machte nämlich in einer Diskussion darauf aufmerksam, „daß die Richtung der Vertikale in der Meridianebene gekrümmt ist, die konkave Seite dem Pol zugewendet, und daß der Schwerpunkt des schwimmen-


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen, Bearbeitung und OCR durch Kurt Stüber, Oktober 2003.
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© Kurt Stueber, 2003