Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (1929)

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172 9. Die verschiebenden Kräfte.

den Eindruck einer Milderung der Klimaunterschiede zwischen Pol und Äquator bekommen müssen.

Die genannten paläoklimatischen Zeugnisse für derartige Schwankungen des Polarklimas im Laufe der Erdgeschichte bedürfen freilich noch durchaus weiterer Untersuchung. Auch ist zu beachten, daß sich für solche Schwankungen auch noch andere Ursachen finden lassen. Einstweilen erscheint es mir aber nicht unwahrscheinlich, daß sie reell sind, und daß sie sich am besten durch Änderungen der Ekliptikschiefe erklären lassen. Dadurch würden sie zu Anzeichen dafür, daß neben den bisher bekannten astronomischen Achsenänderungen der Erde noch weitere stattgefunden haben, die sich der astronomischen Berechnung entziehen.

Neuntes Kapitel. Die verschiebenden Kräfte.

Die Ermittlung und Begründung der relativen Kontinentverschiebungen ist, wie die vorangehenden Kapitel gezeigt haben, auf rein empirischem Wege erfolgt, nämlich aus der Gesamtheit der geodätischen, geophysikalischen, geologischen, biologischen und paläoklimatischen Anzeichen, aber ohne irgend eine Annahme über die Ursache dieser Vorgänge. Dies ist der induktive Weg, den die Naturforschung in den weitaus meisten Fällen zu gehen genötigt ist. Die Formeln der Fallgesetze, der Planetenbewegung wurden zuerst auf rein induktivem Wege durch Beobachtungen ermittelt, und dann erst kam Newton, der nun diese Gesetze auch deduktiv aus der einen Formel der allgemeinen Gravitation abzuleiten lehrte. Dies ist der sich immer wiederholende normale Gang der Forschung.

Für die Verschiebungstheorie ist der Newton noch nicht gekommen. Man braucht wohl nicht zu besorgen, daß er ganz ausbleiben werde; denn die Theorie ist noch jung und wird heute noch vielfach angezweifelt, und man kann es schließlich dem Theoretiker nicht verübeln, wenn er zögert, Zeit und Mühe an die Aufklärung eines Gesetzes zu wenden, über dessen Richtigkeit noch keine Einigkeit herrscht. Aber es ist allerdings wahrscheinlich, daß die völlige Lösung der Kräftefrage noch lange auf sich warten lassen wird; denn sie bedeutet die Entwirrung eines ganzen Knäuels gegenseitiger Abhängigkeiten, wobei es manchmal schwer fallen wird,


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen, Bearbeitung und OCR durch Kurt Stüber, Oktober 2003.
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© Kurt Stueber, 2003