Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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472 Java.

sondern der glatte behauene Stein ruht einfach auf dem Steine und haftet an ihm vermittelst seiner Schwere.

Wie muß die Kultur der Javaner zu jenen Zeiten beschaffen gewesen sein, als sie das gewaltige Bauwerk errichteten? Wie viele kunstgeübte, durchgebildete Bildhauer muß es damals gegeben haben, die diese tausende und abertausende von Figuren gebildet haben! Wie bedeutend und genial war die Schaffenskraft des Mannes, der den eigenartigen Plan des Ganzen entwarf und die Ausführung aus einem Gusse bewirkte! Die einheitliche Durchführung, die vollendete, bis ins kleinste durchgearbeitete Ausschmückung, die hervorragende Originalität dieses Tempelbaues verdient uneingeschränkte Anerkennung.

Hier endigt aber meine Bewunderung. Die künstlerische Gesamtwirkung bleibt nach meinem Gefühl weit hinter den aufgewandten Mitteln zurück. Es fehlt dieser Masse die ernste Majestät der ägyptischen Pyramiden, denn das Ganze geht zu sehr ins Breite, die überall hervortretenden Ecken und Nischen, die kleinen Dagops mit ihren Spitzen am Gipfel zerstreuen das Auge und rauben dem Gesamtbau viel von der Wucht, die ihm sonst infolge seiner Masse inne-wohnen würde. Andererseits ist aber auch der Versuch, dem schweren Bauwerk durch den Aufbau der fünf Terrassen eine gewisse Gliederung zu verleihen und diese Gliederung durch die vieleckige Form jeder Terrasse noch weiter fortzuführen, entschieden mißlungen. Das Ganze ist und bleibt eine nur unvollkommen gegliederte Masse, man mag jeden beliebigen Standpunkt wählen; wenigstens ist dies bei hochstehender Sonne, also den größten Teil des Tages über, der Fall.

Wenn man diesen Mangel auch nicht verschweigen kann, wird man das Kunstwerk dennoch mit hohem Genuß betrachten und wird die gewaltige Regung künstlerischer Schaffenskraft der Vorfahren eines Volkes bewundern, dessen Kultur von solcher stolzen Höhe längst herabgestiegen ist. Wahrscheinlich ist es, daß auch die Verfertiger jener Bauten in Bambushütten wohnten, ebenso wie die jetzigen Javaner; denn Reste von Wohnhäusern in der Nähe dieses oder anderer Tempel haben sich nicht gefunden. Daß die Bildhauerkunst, die in jenen Zeiten in höchster Blüte gestanden haben muß, jetzt spurlos verschwunden ist, ist wohl eine Wirkung des Eindringens des Mohammedanismus, der alle bildliche Darstellung der menschlichen und tierischen Gestalten verbietet. Die jetzigen Javaner sind Mohammedaner und staunen die Schöpfungen ihrer Vorfahren als die Werke finsterer dämonischer Kräfte an.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003