Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Reise nach Mitteljava. 471

Betrachtung kurz nach Sonnenaufgang oder vor Sonnenuntergang. Der erste Eindruck, den ich von diesem Kolossalbau empfing, war der, etwas höchst Sonderbares und Eigenartiges zu sehen, etwas, dessen Form zunächst keineswegs entzückte, das wie ein riesiger Steinhaufen aussah, ein Steinhaufen, dessen Wände aber bei näherem Zusehen über und über mit den kunstvollsten und wunderbarsten Reliefdarstellungen geziert waren.

Die Grundfläche des Bauwerks ist ein Quadrat von 123 Meter, den Kern des Ganzen bildet ein natürlicher, aber für diesen Zweck in seiner Form zurecht geschnittener Hügel. Dieser Hügel ist in fünf zwanzigeckige Terrassen geteilt; auf dem Gipfel der obersten Terrasse finden sich drei konzentrische Kreise von kleinen glockenförmigen Bauten, sogenannten Dagops, die je ein überlebensgroßes Buddhabild enthalten. Jeder innere Kreis liegt etwas höher als der nächstäußere, in dem Zentrum des Ganzen befindet sich ein gewaltiger, die Spitze des ganzen Gebäudes bildender Dagop, den man auch auf der beistehenden Photographie alles überragen sieht. Er ist zum Teil verfallen und enthält in seinem Innern einen sitzenden, vier Meter großen Buddha. Umschreitet man nun eine Terrasse, so findet man sich auf dem breiten Wege, der um jede Stufe herumläuft, zwischen zwei Mauern. Die innere Mauer ist diejenige, die sich an den Hügelkern anlehnt, die äußere Mauer führt frei neben ihr her und beide lassen zwischen sich den Weg frei. Die Wände dieser Mauern sind vollkommen bedeckt mit Hochreliefs, die sich auf das Leben und die Lehre Buddhas beziehen. In regelmäßigen Abständen finden sich Nischen, die je ein sitzendes Buddha-Bild enthalten. Je an den vier Seiten des Bauwerks führt ein Bogentor und eine Treppe von unten zunächst zur untersten Terrasse, dann zur nächsthöheren und so weiter bis ganz nach oben, wo sich am höchsten, gewaltigen Dagop in einer Höhe von 37 Metern ein herrlicher Ausblick auf die ernste und dabei liebliche Gebirgslandschaft eröffnet. Kein Mensch kann jene Höhe ersteigen, kann die Terrassen umschreiten und ihre tausendfachen kunstvollen Bildwerke betrachten, ohne ein staunendes Bewundern zu empfinden. Eine gewisse Herbheit wohnt allen diesen Darstellungen inne, aber sie sind groß gedacht und atmen eine tiefe, ins Innere gerichtete Religiosität. Bewunderungswürdig ist die Behandlung des Materials, eines spröden, schwer zu behandelnden Trachyts, der leider durch Verwitterung sehr gelitten hat und uns die volle Schönheit, die jene Kunstwerke einst besessen haben, nur ahnen läßt. Äußerst kunstvoll ist auch die Bautechnik, denn nirgends ist Mörtel oder ein anderes Bindemittel verwendet, nirgends Klammern,


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003