Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Der tropische Urwald in der Wirklichkeit und in der Vorstellung. 403

jeder derselben ist nicht ein einzelnes Individuum wie unsere Waldbäume, sondern eine kleine Welt für sich, so reich ist er mit kletternden und schlingenden Pflanzen behängt, so dicht sein Astwerk und Stamm mit hängenden Lycopodien und epiphytischen Farnen und Orchideen bedeckt. Aber nicht die Üppigkeit der Vegetation allein ist es, die dieses Landschaftsbild so reizend macht. So sieht der Urwald überall in den Tropen aus, wo der Boden fruchtbar und die Niederschläge häufig und das ganze Jahr hindurch anhaltend sind. Ja ein solcher Wald hat sogar, wenn man sich an die enorme Fülle der aufeinandergespeicherten und durcheinandergewirrten Pflanzenmassen gewöhnt hat, auf die Dauer etwas eintöniges, düsteres, weil die farbigen Blüten im Verhältnis zu der überwältigenden Menge der grünen Blätter zurücktreten und die Mannigfaltigkeit der Farben weit zurücksteht hinter dem, was uns unsere Obstgärten und Hänge zur Zeit der Obstblüte oder unsere Wiesen und Bachufer im Mai und Frühsommer bieten. Eine große Menge der Urwaldpflanzen besitzt ja auch bunte und schön geformte Blüten, vor allem die epiphytischen Orchideen, der Stolz unserer Gewächshäuser. Aber einmal verteilt sich die Blütezeit aller dieser Pflanzen über das ganze Jahr und ist nicht wie bei uns auf wenige Monate zusammengedrängt. Zweitens sind im Urwald, wo ein steter Kampf um jeden Lichtstrahl stattfindet, die Organe, welche das Licht zu verwerten haben, also die Blätter und grünen Pflanzenteile, häufig in ganz excessiver Weise entwickelt. Jede Pflanze, auch die kleinste, reckt ihre Blätter gierig dem Lichte entgegen, welches seinen Weg durch das Blätterdach sozusagen mühsam erkämpfen muß, und ein düsteres Grün ist überall die Grundfarbe.

Wallace hat zuerst auf diese Eigentümlichkeiten des Urwalds aufmerksam gemacht. Aber noch immer stellen sich die meisten Europäer den Urwald vor wie das orchideengeschmückte Warmhaus eines blumenliebenden Fürsten oder englischen Lords. Und noch in einer zweiten Beziehung malt sich die Phantasie der Daheimsitzenden das Tropenbild nach den Schilderungen von überenthusiastischen Reisenden und nach dem, was er selbst in zoologischen Museen und Gärten gesehen hat, ganz unrichtig aus. Ebenso wie man sich den Wald überall mit den riesigen bunten Blüten der Orchideen und Rafflesien geschmückt denkt, ebenso zaubert die Einbildungskraft Papageien, Kakadus. Nashornvögel in alle Baumzweige, Affenherden, die sich in den Gipfeln tummeln, Elefanten und Rhinocerosse, die in ihrem Schatten spazieren gehen, ein Heer von bunten Schmetterlingen und metallisch schimmernden Käfern, die die Blüten umschwärmen. Die


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003