Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Australische Ehen. 261

zwar deshalb, weil es bei der geringen Bevölkerungszahl und den erschwerenden Heiratsbestimmungen schon schwer ist, eine einzige passende Genossin zu finden. Da es keine reichen Männer gibt, können diese nicht durch Kauf einen Harem an sich bringen. Wohl aber hat ein kinderreicher Vater, ein schwesternreicher Bruder Gelegenheit dazu, sich mehrere Genossinnen einzutauschen, da ein Verbot der Vielweiberei nirgends existiert. Eine häufige Erscheinung kann sie aber aus den angedeuteten Gründen nicht werden.

Das Weib ist die Sklavin, das Lasttier des Mannes, sie ist von allen Rechten ausgeschlossen und der schrankenlosen Willkür ihres Gebieters preisgegeben. Eifersüchtig wird sie von ihm bewacht, grausam geschlagen, oft verstümmelt, wenn sie ihm Anlaß zu Mißtrauen gibt oder seinen Jähzorn erregt. Natürlich sind auch unter den australischen Wilden die Temperamente und Charaktere verschieden. Johnny behandelte seine Frau zuweilen recht grausam; der alte Jimmy lebte mit seiner Ada in sehr harmonischer Ehe.

Trotz der Eifersucht, mit der der Australier die eheliche Treue seines Weibes bewacht, herrscht bei manchen Stämmen die Sitte, daß die Brüder eines Mannes in einer Art Mitehe mit der Schwägerin leben und dafür, wenn selbst verheiratet, dem Bruder dasselbe Vorrecht bei ihrem Weibe einräumen. Ja, bei dem schon mehrfach erwähnten Dieri-Stamm leben ganze Gruppen von Personen in einem Eheverhältnis, das man Piräuru-Ehe nennt. Jeder Ehemann überläßt unter Umständen seine eigentliche Frau oder Noa an seine Mitehemänner und hat ein gleiches Anrecht an deren Noas, die er ebenso wie ihre Männer als seine Piräuru bezeichnet.

Man hat die Behauptung aufgestellt, daß derartige Gruppenehen aus der sogenannten Blutsverwandtschaftsehe (Wechselheirat der Brüder und Schwestern) hervorgegangen seien, und versucht, aus der Gruppenehe, die auch auf Hawai gefunden und dort Punalua-Ehe genannt wird, das ganze Verwandtschaftssystem der Australier und zahlreicher anderer Völker abzuleiten. Als Hauptargument für die Auffassung führte man an, daß die Australier, viele Indianerstämme, Amazulukaffern, Dravidas und andere primitive Völker nicht nur ihre wirklichen Eltern und Geschwister mit Vater, Mutter, Bruder und Schwester anreden, sondern noch zahlreiche andere Personen ihrer entfernteren Verwandtschaft in einer manchmal höchst verblüffenden und in ihrer Gesetzmäßigkeit noch nicht hinreichend aufgeklärten Weise. Zuweilen werden diese Bezeichnungen für ganze Altersklassen einer Phratrie gebraucht. Ebenso steht es mit der Bezeichnung von Gatte, Eheweib, Kind und Enkel. Solche Gruppenbezeichnungen für nahe


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003