Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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262 Die Ureinwohner Australiens.

Verwandschaftsgrade sollten sich aus Gruppenehen erklären. Sie tun es aber keineswegs, wie neuerdings von Heinrich Cunow in überzeugender Weise gegen Lewis H. Morgan nachgewiesen worden ist. Bei einer vergleichenden Betrachtung dieser Nomenklaturen bei denjenigen Urvölkern, die von Morgan zum Beweise seiner Behauptungen herangezogen worden sind, ergibt sich die Tatsache, daß sie sich unmöglich durch die Annahme erklären lassen, daß dort überall ursprünglich Gruppenehe geherrscht habe, und daß man infolgedessen über Vaterschaft und Geschwisterschaft im Unklaren sein mußte. Über die Mutterschaft war man doch nie im Zweifel, und dennoch wird der Muttername in solchen Nomenklaturen ebenso generell gebraucht, wie die ändern. Ebensowenig läßt sich die Gens als eine Umbildung der Piräuru- (beziehentlich Punalua-) Gruppe auffassen, und ebensowenig sind die neben der Gentilorganisation existierenden Heiratsklassen der Bewohner von New-South-Wales und Queensland aus einer früher existierenden Gruppenehe hervorgegangen. Die Gruppenehe ist eine Einrichtung, die sich zudem auch nicht bei den am tiefsten stehenden australischen Stämmen findet, sondern bei dem relativ hoch entwickelten Dieri-Stamm. Auch sonst ist sie in ihrem Auftreten auf der Erde keineswegs an die am tiefsten stehenden Rassen geknüpft, sondern findet sich außer auf Hawai auch bei den auf verhältnismäßig hoher Entwicklungsstufe stehenden Tahitiern, den Nairen an der Malabarküste, den Todas in den Neilgherris und bei gewissen Singhalesen.

Ebensowenig kann man Morgan folgen, wenn er »die Blutsverwandtschaftsfamilie« als die Vorstufe der Gruppenehe und die ursprünglichste Form der Ehegemeinschaft des Menschengeschlechts ansieht. Als eine durch längere Zeiträume ausschließlich oder doch mit Vorliebe geübte und gewohnheitsmäßig fixierte Einrichtung kann die Geschwisterheirat schon deshalb nicht existiert haben, weil sie wohl mit Sicherheit zur Degeneration und damit zur Vernichtung der Art führt. Dies ist für Pflanzen und Tiere durch Experiment und die Erfahrungen der Züchter, für den Menschen selbst aber dadurch bewiesen, daß alle Völker der Erde solche Verbindungen durch Gesetz oder Brauch verhindern. Das ist durchweg und überall die Regel, und seltene Ausnahme ist es, wenn die Geschwisterehe hie und da einmal toleriert wird (Weddas??), oder in Fürsten- und Häuptlingsfamilien — wohl meist aus politischen Gründen - - eingeführt wurde. Die allgemeine Abneigung gegen solche Ehen stammt nicht aus einem angeborenen Widerwillen, auch nicht aus der Unlust von Personen, die mit einander aufgewachsen waren, sich ehelich zu


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003