Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

Volltext

[Vorige Seite][Index][Nächste Seite]

Heiratsbestimmungen. 257

Heiratssatzungen des Kurnaistammes in Gipsland (Ost-Victoria) und ihrer mehr östlich wohnenden Stammverwandten, der Gurnditschmara am Lake Condah. Bei den letzteren reicht das Verbot der Verwandtenehe nicht so weit, als bei den Kurnai. Durch diese einfachen und durchsichtigen Bestimmungen ist alles erreicht, was durch Heiratsvorschriften vernünftigerweise überhaupt erstrebt werden kann: der gänzliche Ausschluß naher Inzucht ohne jede sonstige unnütze Beschränkung.

Trotz dieser augenscheinlichen Vorzüge befolgen weitaus die meisten australischen Stämme, ja die meisten Völker der Erde, die der Gefahr häufiger enger Inzuchtheiraten ausgesetzt sind und derselben begegnen wollen, andere Systeme, die, obwohl in ihrer Wirksamkeit komplizierter und schwerer zu durchschauen, doch praktisch leichter zu handhaben sind.

Man bedenke nämlich, welche genaue Kenntnis der Stammbäume jedes einzelnen Hordenmitgliedes erforderlich ist, wie überhaupt alle genealogischen Details des ganzen Stammes auf Generationen zurück bekannt sein müssen, wenn ein Jüngling, der sich mit einem Mädchen aus einer entfernt wohnenden Horde verbinden soll, herausfinden will, ob nicht vielleicht einer seiner Urgroßeltern mit einem der Ur-großeltern seiner Erwählten verschwistert war. Bei Menschen, die keine Schriftsprache besitzen, dürfte eine solche Feststellung häufig unausführbar sein, und ich zweifle, ob es selbst den Kurnai trotz ihrer geographischen Abgeschiedenheit, trotz der durch viele Generationen fortgesetzten Übung, und trotz einer reich entwickelten Verwandtschaftsnomenklatur immer gelungen sein wird, ihre eigenen Satzungen durchzuführen.

Ein ungemein einfaches und leicht zu handhabendes Heiratssystem haben die Narinyeri in Südaustralien an der Murraymündung. Die Stammvereinigung umfaßt achtzehn Horden, die völlig autonom sind. Es ist nun streng verboten, in die Horde des Vaters (also in die eigene Horde) oder in die Horde der Mutter hineinzuheiraten. Durch diese einfache und leicht ausführbare Bestimmung werden alle Geschwisterehen unmöglich gemacht, Vetternehen werden aber nur zwischen Kindern von Brüdern, und von Bruder und Schwester, nicht aber zwischen Kindern von zwei Schwestern verhindert, falls letztere nicht zufällig in dieselbe Horde hineingeheiratet haben.

Bei den Narinyeri kommt zum Begriff des lokalen Verbandes oder der Horde noch etwas neues hinzu, das Erkennungszeichen oder Hordenmerkmal, ein Pflanzen- oder Tiername, der an Stelle der lokalen Bezeichnung der Horde tritt. In Australien sind diese Merkmale oder Totems durchweg nur Namen. Eine Verehrung, ein


Faxsimile (Scan) dieser Textseite.

Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
Dieses Buch ist Teil von www.biolib.de der virtuellen biologischen Fachbibliothek..
© Kurt Stueber, 2003