Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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256 Die Ureinwohner Australiens.

barhorden gänzlich unabhängig stellte, also nur unter sich heiratete, streng endogam war, so scheint ein solches primitives Verhältnis sich nirgends in Australien erhalten zu haben. Da die Horden aus national-ökonomischen Gründen klein sind und klein bleiben müssen, würde unter solchen Umständen eine sehr enge Inzucht, beständige Geschwister- und Vetternehen die notwendige Folge sein. An der Schädlichkeit einer lange fortgesetzten engen Inzucht und der Nützlichkeit gelegentlicher Kreuzung kann nach den experimentellen Untersuchungen Darwins an Pflanzen und nach den übereinstimmenden Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter nicht gezweifelt werden1). Die Australier selbst sind zu gute Beobachter, als daß ihnen der schlechte Einfluß dauernd fortgesetzter naher Verwandtenehen hätte verborgen bleiben können. Eine Überlieferung des Dieri-stammes in Südaustralien beweist das deutlich, die besagt, daß anfangs Väter, Mütter, Brüder, Schwestern und andere nahe Verwandte unterschiedslos untereinander heirateten, bis die schlimmen Wirkungen solcher Verbindungen deutlich hervortraten. Ein Verbot der Verheiratung von Personen verschiedener Altersschicht, der Eltern mit den Kindern, der Onkel und Tanten mit Neffen und Nichten, das wir bei allen australischen Stämmen durchgeführt finden, konnte keine radikale Besserung bringen. Es mußten auch Geschwisterehen, die von allen Züchtern als besonders schädlich angesehen werden, und Ehen zwischen Geschwisterkindern verboten werden, und da durch diese Beschränkungen in vielen Horden die Möglichkeit endogamer Verheiratung zeitweilig ganz aufhörte, war die Folge, daß die benachbarten Horden zu Heiratszwecken in Wechselbeziehung traten, die heiratsfähigen Mädchen austauschten. Da das Übel sich aber nicht beseitigen ließ, wenn zwei oder drei kleine Horden diese Wechselbeziehung eingingen, mußte der Kreis erweitert werden, und über weite Gebiete hin traten die Horden in Heiratsbeziehungen zu einander und bilden einen Stamm, den mehr ein verwandtschaftliches als politisches Band zusammenhält.

Den einfachsten Verhältnissen begegnen wir da, wo neben dem Verbot der Heirat von verschiedenen Altersschichten untereinander noch das zweite Verbot besteht, ein Weib zu nehmen, das näher als im fünften Grade mit dem Manne verwandt ist. Verwandten, deren Urgroßväter und Urgroßmütter leibliche Geschwister waren, ist damit die eheliche Verbindung unmöglich gemacht. So beschaffen sind die

1) Eine ausgezeichnete Diskussion dieser Frage rindet man bei Darwin: »Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Znstande der Domestikation« im 17. Kapitel.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003