Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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258 Die Ureinwohner Australiens.

Kultus wird dem Totemtier oder der Totempflanze nirgends erwiesen. Die Narinyeri jagen und essen ihre Totemtiere, nur wird darauf geachtet , daß die Überbleibsel nicht Zauberern in die Hände fallen. Andere Stämme vermeiden es, wo es angeht, ihre Totemtiere zu töten, verzehren sie nie und geben ihnen auf der Jagd möglichste Chance des Entkommens. Das ist aber auch die höchste Rücksicht, die sie ihnen angedeihen lassen. Bei den Narinyeri hatte ursprünglich jede Horde ein einziges, ihr eigentümliches Totem, was sich neuerdings durch Zusammenschmelzen der Horden und Vereinigung mehrerer verschiedener zu einer Sammelhorde geändert hat. Die Kinder gehören wie überall in Australien zur Horde des Vaters. Da aber auf dieser Entwicklungsstufe der Totemname nichts anderes ist als ein Name für die Horde, gehören die Kinder naturgemäß auch dem Totem des Vaters an. Es herrscht, wie übrigens auch bei den Kurnai, in jeder Beziehung Vaterrecht.

Ahnliche Einrichtungen finden wir bei den Turra, den westlichen Nachbarn der Narinyeri. Nur zeigen dieselben insofern höhere Ausbildung, als die Horden in zwei Hauptgruppen geteilt sind. Verheiratung innerhalb jeder Gruppe ist verboten: die Männer der einen Gruppe müssen stets ihre Frauen in der ändern Gruppe suchen. Nicht nur die Horde, sondern die ganze Gruppe ist streng exogam.

Bei den Stämmen, zu denen wir uns jetzt wenden wollen, finden wir einen höchst bemerkenswerten Unterschied gegen die bisher beschriebenen Einrichtungen. Auch sie bestehen aus einer Anzahl politisch völlig autonomer Horden und auch bei ihnen gehören die Kinder zur Horde des Vaters. Das Totem aber vererbt sich von der Mutter auf die Kinder, es ist Geschlechtsname, nicht Hordenname, den die Mutter auf die Nachkommenschaft überträgt, ähnlich wie bei uns der Vater den Vatersnamen. Mit den Frauen, die durch Heirat aus verschiedenen Horden in einer Horde zusammengeführt werden, gelangen auch ihre Totems dorthin. In jeder Horde finden sich Mitglieder aller oder der meisten Totems des Stammes.

Man sagt, in solchen Stämmen herrsche Mutterrecht. Das ist nicht ganz richtig, denn vom Vater vererbt sich die Zugehörigkeit zur Horde, und damit auch der Hauptbesitztitel, den der Schwarze zu eigen hat; ein Anrecht auf ein gewisses Jagdgebiet. Von der Mutter vererbt sich nur Geschlechtsname oder Totem, und damit gewisse Rechte und Pflichten bei der Verheiratung, Blutrache und Totenfeier.

Die Heiratssatzungen suchen dann Verwandtenehen nicht mehr durch unmittelbare Verbote oder durch Ausschluß der väterlichen und mütterlichen Horde bei der Weiberwahl zu verhindern, sondern sie


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003