Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

Volltext

[Vorige Seite][Index][Nächste Seite]

Kommunistische Grundlage des Zusammenlebens. 255

ragenden Krieger, Jäger oder Zauberer, dessen Rat besonderes Gewicht hat, und der bei gemeinsamen Unternehmungen als Leiter auftritt. Im übrigen ist seine Macht eine sehr beschränkte; wenn man ihm gehorcht, geschieht dies freiwillig und nicht durch Zwang; er kann weder der Gemeinschaft Gesetze, noch dem Einzelnen Vorschriften machen. Nur ganz ausnahmsweise ist man unter den Stämmen Australiens einem wirklich einflussreichen und mächtigen Häuptling begegnet, so dem berühmten Jalina Piramurana bei den Dieri in Südaustralien (Barcoo River), der es durch Tapferkeit, Klugheit und Beredsamkeit dahin gebracht hatte, daß im Umkreise von zwanzig deutschen Meilen sein Einfluß ein maßgebender war. Das ist ein Fall, der einzig in seiner Art dasteht. Aber auch in diesem und anderen Fällen, in denen ein Einzelner größeren Einfluß unter seinen Genossen erwarb, knüpft sich die Macht streng an seine Person, und vererbt sich nicht auf seine Nachkommen oder seine übrige Familie. Seine Kinder sind um nichts besser, als die andern Mitglieder der Horde.

In politischer Beziehung ist die Horde als eigentliche Einheit aufzufassen, ein kleiner lokaler Verband von gewöhnlich 40 bis 60 Personen, Bewohner eines gemeinsamen Jagd- und Wandergebiets, das sie als ihr Eigentum betrachten, und dessen Betreten keinem andern Schwarzen ohne Erlaubnis freisteht. Gleichzeitig steht jedoch die Horde in gewissen nahen Beziehungen zu den benachbarten Horden, die dieselbe oder eine ähnliche Sprache reden und dieselben Satzungen und Gebräuche anerkennen. Diese Beziehungen sind weniger politischer als verwandtschaftlicher Natur.

In den letzten Jahrzehnten hat man den Verwandtschaftsorganisationen der Australier große Aufmerksamkeit zugewendet, und durch die Beobachtungen und eingehenden Studien, besonders der Missionäre, eine ungeheure Menge von Tatsachen aufgehäuft, die einen hinreichenden Einblick in die Organisationen zahlreicher australischer Stämme gestatten. Der Gegenstand ist aber so verwickelt, daß eine klare Darlegung auch nur der Grundprinzipien mehrere Bogen umfassen würde, selbst wenn man alles nebensächliche Detail beiseite läßt. Ich will daher diesen Fragen, die deshalb von höchstem ethnographischem Interesse sind, weil sie sich mit dem Urzustände der menschlichen Familien- und Gesellschaftsorganisation beschäftigen, nur wenige Worte widmen.

Nehmen wir als Urzustand bei den Australiern einen solchen an, in welchem die Horde nicht nur politisch autonom war, sondern sich auch in Bezug auf Verheiratung seiner Mitglieder von den Nach-


Faxsimile (Scan) dieser Textseite.

Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
Dieses Buch ist Teil von www.biolib.de der virtuellen biologischen Fachbibliothek..
© Kurt Stueber, 2003