Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

Volltext

[Vorige Seite][Index][Nächste Seite]

254 Die Ureinwohner Australiens.

in Lauben aus Buschwerk oder auch in Erdhöhlen. Dorf und Stadt kann sich nicht bilden, demzufolge auch kein Staat. Eigentum besitzt jeder nur so viel, als er und die Seinen auf den weiten Wanderungen mit sich schleppen können, und so einfach sind Waffen und Gebrauchsgegenstände, daß ein jeder sich leicht selbst herstellen kann, was er bedarf. Alles das besitzt keinen Wert, der fremde Habgier reizen, Vorkehrungen zum Schütze durch Zusammenschluß zu größeren Verbänden nötig machen könnte. Nur ihr weites Jagdrevier hütet jede Horde sorgfaltig und duldet keine Übergriffe der Nachbarn. Wir finden aber, dass man durchgehends die Grenzen respektiert, daß niemand sich ohne Erlaubnis in die Jagdgründe fremder Stämme wagt, und daß Reibungen wegen Grenzüberschreitungen sehr selten sind. Die eigenen Gebiete sind ja aber auch schon für sich so groß, und seit undenklichen Zeiten scheint man es gelernt zu haben, Übervölkerung infolge zu starker Fruchtbarkeit der Horde durch eine Reihe künstlicher Mittel zu verhindern.

Der Besitz ist es, der in erster Linie den einen Menschen vom anderen abhängig macht, er ist die Hauptquelle der Macht, das Hauptmittel der Unterdrückung. Die besitzlosen Horden Australiens sind gänzlich frei und autonom. Nichts kann sie reizen, fremde Horden zu unterwerfen, nichts haben sie selbst, was die Eroberungsgelüste anderer anlocken könnte. So hören wir denn auch nirgends von Kämpfen um die eigentliche Herrschaft. Weiberraub, gelegentliche Morde, in seltenen Fällen nur Grenzstreitigkeiten geben Anlaß zu meist ziemlich harmlosen Gefechten. Wenn wir überall finden, daß die Horden in gänzlicher Unabhängigkeit von den Nachbarhorden leben, so begegnet uns ebenso in der Horde selbst das Prinzip allgemeiner Gleichheit, das seine Wurzeln vor allem darin hat, daß ein Unterschied von arm und reich nicht existiert. Es herrscht kurz gesagt in den meisten Beziehungen in der Horde Kommunismus. Die individuelle Freiheit wird beschränkt durch gewisse strenge Satzungen und Gebräuche, die sich in langen Zeiträumen entwickelt haben. Aber diesen Satzungen ist jeder gleichmäßig unterworfen; gewähren sie auch den Alten eine Reihe von Privilegien, so hat doch jeder ein Anrecht auf ihren Genuß, wenn er ein gewisses Alter erreicht.

Die Alten üben bei den meisten Stämmen eine gewisse Autorität aus, aber diese beschränkt sich auf ganz bestimmte Fragen, die besonders die Einweihung der herangewachsenen Jünglinge und Jungfrauen betreffen. Sonst ist jedes erwachsene männliche Mitglied in seinem Tun und Lassen frei und niemals der gehorsame Diener eines anderen. Die meisten Horden erwählen sich eine Art Oberhaupt, einen hervor-


Faxsimile (Scan) dieser Textseite.

Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
Dieses Buch ist Teil von www.biolib.de der virtuellen biologischen Fachbibliothek..
© Kurt Stueber, 2003