Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Zehntes Kapitel. Die Ureinwohner Australiens1).

In den voraufgegangenen Erzählungen habe ich schon vielfach Gelegenheit gehabt, Sitten, Gewohnheiten und kleine Charakterzüge der australischen Schwarzen zu schildern. Ein fast dreivierteljähriges enges Zusammenleben mit diesen Naturkindern gab mir Gelegenheit zu reichlicher Beobachtung ihrer physischen, intellektuellen und moralischen Beschaffenheit. Wenn ich hier im Zusammenhang über sie spreche und ihnen ein besonderes Kapitel widme, so geschieht dies deshalb, weil sie erstens in der Tat zu den interessantesten Völkern der Erde gehören; zweitens aber weil man über sie noch die verkehrtesten und schiefsten Auffassungen verbreitet findet. Frühere Beobachter haben sie als den Ausbund der Scheußlichkeit beschrieben, mehr Menschenaffen als wirkliche Menschen, der Gesichtsausdruck tierisch, der Körper ein Zerrbild ohne Ebenmaß und Harmonie, der Verstand kaum höher als der der intelligenteren Tiere, die Gemütsart grausam, tückisch, allen besseren Regungen verschlossen. Im direkten Gegensatz dazu glauben andere Beobachter und zwar solche, die nicht den in seiner Heimat gewurzelten Menschen unter seinen natürlichen Lebensbedingungen, sondern in Europa ausgestellte Schauobjekte untersucht haben, »die Australier gegen die fast allgemein verbreitete Ansicht besonderer Inferiorität in Schutz nehmen zu müssen«. Sie werden als »geistig nicht unvorteilhaft beanlagt« bezeichnet, in ihren Fähigkeiten den Indianern und Samojeden gleichgestellt.

Die eine Auffassung ist so irrig und unbegründet wie die andere. Die Australier sind keine Zwischenglieder zwischen Affen und Menschen,

l) Ich habe dieses Kapitel in der zweiten Auflage keiner neuen Bearbeitung unterzogen, sondern es so gelassen, wie ich es vor acht Jahren niedergeschrieben habe. Es hat bloß den Zweck, dem Leser ein anschauliches, vorwiegend auf eigener Anschauung beruhendes Bild einer der niedersten Menschenrassen vorzuführen, erhebt aber nicht den Anspruch, den Gegenstand in erschöpfender Weise etwa nach Art einer Monographie zu behandeln.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003