Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Die »Trägerfunktion« der Ceratodusflossen. 105

Wenn Gray für Protopterus angibt: »The limbs are used to sup-port the animal some height above the surface of the gravel, when it is at rest«, so darf man aus dieser beiläufigen Bemerkung wohl mit Sicherheit schließen, daß bei Protopterus ein ganz ähnliches Verhalten vorliegt wie bei Ceratodus, und daß wahrscheinlich auch bei ersterem alle drei Ruhestellungen vorkommen werden, die Thomson bei Ceratodus beobachtet hat. Thomson selbst konnte bei seinem verkümmerten Exemplar von Protopterus kein Ruhen auf den aufgestemmten Flossen beobachten, aber dieser Ausfall ist sicherlich auf die Kränklichkeit und Schwäche des betreffenden Tieres zurückzuführen.

Über den Zweck der Ruhestellung der Dipnoer mit aufgestemmten Flossen und infolgedessen leicht über den Boden erhobenem Vorderkörper lassen sich verschiedene Vermutungen äußern. Es ist klar, daß dadurch ein zu tiefes Einsinken des Körpers, besonders des Kopfes in den weichen Schlamm der Flüsse verhütet werden kann, so daß der Fisch auch beim Ruhen in der Lage ist, einen fetten Bissen, der im langsam fließenden Wasser in seiner Nähe vorbeischwimmt, vorbeikriecht oder vorbeigetrieben wird, wahrzunehmen und zu erschnappen.

Aber welches auch immer die biologische Bedeutung dieser eigentümlichen Ruhestellung sei, ungemein wichtig ist der durch ihre Beobachtung erbrachte Nachweis, daß die Extremitäten der Dipnoer zum Teil schon im Begriff stehen, sich neuen Funktionen anzupassen, Funktionen, die wir sonst in der Regel nur von den Extremitäten der höheren Wirbeltiere ausgeübt sehen. Es ist dies die Funktion, den Körper in der Ruhe tragen zu helfen, und zwar nach Belieben in einiger Höhe über die Unterlage erhoben.

Ein Irrtum, der sich von Beginn unserer Kenntnis über Ceratodus an durch die ganze Litteratur schleppt, ist die Vorstellung, daß sich der Fisch während der Trockenperiode in den Schlamm eingrabe. Ceratodus besitzt, wie schon erwähnt, einen Verwandten im tropischen Afrika, der mit seinem wissenschaftlichen Namen Protopterus annectens genannt wird. Von diesem Fische ist seit lange bekannt, daß er sich in der trocknen Jahreszeit in den Schlamm verkriecht und aus Schlamm und eigenem Schleim eine Art Kokon bildet. So vor gänzlichem Austrocknen geschützt, kann er ungefährdet die Trockenperiode überdauern, bis die Feuchtigkeit der Regenzeit seinen Kokon auflöst und ihn aus seinem Sommerschlafe erweckt. Als Krefft, der erste Beschreiber des Ceratodus, den Fisch untersuchte, erkannte er sofort seine nahe Verwandtschaft mit Protopterus und sprach die


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003