Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Drittes Kapitel. Erste Erfahrungen im Busch.

In der Frühe des nächsten Morgens ritt ich wohlgemut ins Land hinein. Nach einer kalten, sternenklaren Nacht lachte mir der frischste, strahlendste Morgen entgegen. Das Ende des australischen Winters war gekommen, und das Herannahen des Frühlings kündigte sich an: allerdings nicht durch das Auftreten einer jungen Belaubung an den Bäumen. Denn letztere haben in Australien keinen periodischen Laubwechsel, sondern werfen und erneuern ihre Blätter das ganze Jahr hindurch. Aber das Gras, das während des Winters gelblich, dürr und vertrocknet aussieht, beginnt frisch zu sprießen und der Landschaft eine lebhaftere Färbung zu verleihen. Die Luft ist von wunderbarer Reinheit und Frische und scharf zeichnen sich die hohen, reich verästelten und belaubten, aber doch durchsichtigen Gestalten der Eucalypten vom tiefblauen Himmel ab. Gras überzieht den Erdboden, soweit das Auge reicht, und nur in der Tiefe des wasserleeren Flußbetts schimmert gelblicher Sand. Überschaut man von einer Anhöhe aus das Land, betrachtet man die Rücken der emporragenden Berge, so scheint eine gleichmäßige Bewaldung Höhen und Tiefen, Berge und Täler zu überziehen. Wenn man aber dem Walde zustrebt, so weicht er vor uns zurück. Wir sehen uns zwar von Bäumen umgeben, aber diese stehen so weit auseinandergerückt, daß man von Wald nicht gut sprechen kann, und auch in Australien selbst den Ausdruck »forest« niemals hört. Wir befinden uns in einer typischen Parklandschaft. Die Bäume stehen in Abständen von 10 bis 20 Metern und dulden in der Regel keine Nachbarn, auch kein Unterholz in ihrer Nähe. Ihr weithin ausgebreitetes und in eine Tiefe von 60 bis 70 Meter abwärts dringendes Wurzelwerk bemächtigt sich rasch aller Feuchtigkeit, die dem Boden in einem gewissen Umkreis zugeführt wird, und unterdrückt das Aufkommen jedes ansehnlichen Konkurrenten.


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003