"Ernst Haeckel - Sandalion"

7. Kapitel

Fälschungen von Arnold Brass




Keimformen der höheren Wirbeltiere sind auf jüngeren Stufen der Entwicklung so auffallend ähnlich, daß man ohne Kenntnis ihrer Herkunft sie überhaupt nicht unterscheiden kann. Diese embryologische Tatsache war schon den älteren Naturforschern bekannt und ist jederzeit sehr leicht durch Vergleichung von Präparaten und Abbildungen zu erhärten. Insbesondere ist bei den drei höheren Wirbeltierklasssen, die wir als A m n i o t e n  zusammenfassen (Säugetieren, Reptilien und Vögeln), auf gewissen frühen Bildungsstufen die Ähnlichkeit der äußeren Gestalt und der inneren Struktur überraschend; auch die erfahrendsten Sachkenner sind nicht im stande, die jüngeren Embryonen von Amniontieren zu unterscheiden, welche im entwickelten Zustande so auffällig verschieden sind, wie Mensch und Affen, Hund und Kaninchen, Vogel und Eidechse. Das hat bereits Carl Ernst von Baer in seiner klassischen "Entwickelungsgeschichte der Tiere" gelehrt (1828, Anhang 21, S. 221).

Wenn wir diese überraschenden Tatsachen im Lichte der Deszendenztheorie betrachten, sofinden sie ihre einfache Erklärung durch das " B i o g e n e t i s c h e   G r u n d g e s e t z " , durch die Annahme, daß diese auffällige "Formverwandtschaft" die Folge wahrer "Stammverwandtschaft" sei. D i e   o n t o g e n e t i s c h e   T a t s a c h e   w i r d   v e r s t ä n d l i c h   d u r c h   d i e   p h y l o g e n e t i s c h e   H y p o t h e s e .  In gleicher Weise, wie die verschiedenen Amniotenformen sich aus der gleichen Keimform entwickeln, haben sie sich ursprünglich aus einer und derselben Stammform hervorgebildet. Aber auch wenn wir diese Annahme nicht machen wollen, folgt jedenfalls daraus, daß ihre Entwickelung nach denselben gemeinsamen Gesetzen verläuft.

Da ich demgemäß in diesen Erfahrungs-Tatsachen der vergleichenden Embryologie einen bedeutungsvollen (indirekten!) Beweis für die Wahrheit der Deszendenztheorie erblicke, habe ich in mehreren Schriften eine Anzahl von verschiedenen Amnioten-Embryonen auf drei verschiedenen Entwickelungstufen nebeneinander gestellt (vgl. L. N. 4). Dabei habe ich absichtlich auf unwesentliche Züge des Embryonenbildes kein Gewicht gelegt, um die wesentlichen desto deutlicher hervortreten zu lassen. Gerade diese "Schematisierungen" sind es, welche Brass und seinen Kepleristen die dankbarsten Angriffspunkte für ihre Verleumdungen geliefert haben; sie wurden auch von anderen Autoren "nicht gutgeheißen".

Daß die sogenannte "exakte Schule" an solchen Darstellungen (- wie überhaupt an jeder "Vergleichung" -) von vornherein Anstoß nahm, ist begreiflich; und ebenso, daß die Jesuiten daraufhin den Mythus von meinen "Fälschungen" verbreiteten. Dabei "fälschten" die selbst den Tatbestand in der unverfrorensten Weise; sie gaben an, ich habe eine vollständige I d e n t i t ä t  der verglichenen Embryonen behauptet, während ich doch nur hervorgehoben habe, daß ihre Ä h n l i c h k e i t  zum Verwechseln groß und wirklich "täuschend" sei. Weder ich noch irgend ein anderer Naturforscher hat die unsinnige Behauptung aufgestellt, daß die Embryonen von Mensch und Affe, von Hund und Kaninchen, auf irgend einer Entwickelungsstufe " i d e n t i s c h "  seien; denn das wird ja schon durch die Tatsache der embryonalen Entwickelung selbst widerlegt. Schon bei der einfachen kugeligen Keimzelle sind c h e m i s c h e  Unterschiede in der molekularen Zusammensetzung des Plasma (- sowohl des Karyoplasma, der Kernsubstanz, als des Cytoplasma, der Zellsubstanz -) mit Sicherheit anzunehmen, obwohl mit unseren beschränkten Hilfsmitteln nicht nachzuweisen. Diese Annahme allein erklärt uns die Tatsache, daß jedes Kind Eigenschaften von beiden Eltern geerbt hat. Das Kernplasma der Eizelle überträgt die mütterlichen, das Kernplasma der Spermazelle die väterlichen Eigenschaften; in den individuellen Verschiedenheiten ihrer chemischen Zusammensetzung und in der besonderen M i s c h u n g  (Amphimixis) dieser beiden verschiedenen Keimbestandteile ist der wahre Grund der "Individuellen Ungleichheit" zu suchen, die überall besteht. (Vgl. unten "Dank den Jesuiten"!) Diese Auffassung habe ich bereits 1866 (im fünften und sechsten Buche der "Generellen Morphologie") eingehend begründet.

Körperform und Struktur der Embryonen. Die Vergleichung der ä u ß e r e n  Körperform der fraglichen Embryonalzustände beweist zunächst nur die morphologische Zusammengehörigkeit zu einer natürlichen Gruppe (Klasse, Ordnung, Familie); sie gewinnt ihren hohen philosophischen Wert erst durch die phylogenetische Deutung. Für diese ist aber ungleich wichtiger die öbereinstimmung in dem i n n e r e n  Körperbau, in der gröberen (organologischen) und der feineren (histologischen) S t r u k t u r . Auch diese ist nicht absolut; sie ist aber so vollkommen, daß sie in der vergleichenden Anatomie schlechthin als "Gleichheit", nicht bloß als "Ähnlichkeit" behandelt wird. Es ist zu verwundern und zu bedauern, daß diese wichtigste Tatsache der vergleichenden Anatomie und Ontogenie (- auf die ich von jeher den höchsten Wert gelegt habe -), in diesem verworrenen Streite nicht mehr betont, und namentlich von den 46 Kollegen, die in der Leipziger Deklaration für mich eingetreten sind, nciht in den Vordergrund gestellt worden ist.

Material der Embryonen. Eine Fülle von Irrtümern auf diesem entlegenen Gebiete der embryologischen Beobachtung und Vergleichung ist dadurch bedingt, daß genügendes Material schwierig oder überhaupt nicht zu beschaffen ist. Die lebendig gebärenden Säugetiere sind in dieser Beziehung ganz ungünstig gestellt, im Vergleiche zu den eierlegenden, nächstverwandten Sauropsiden (Vögeln und Reptilien). Das klassische Hauptobjekt der embryologischen Forschung war von jeher das Huhn, von dem Eier jederzeit in beliebiger Menge zu erhalten und in der Brütmaschine künstlich auszubrüten sind. Wie verhängnisvoll dieser Umstand war, wie weit sich gerade die Ontogenese der Vögel von dem ursprünglichen (erst spät mittels des Amphioxus erkannten) Typus der Vertebraten-Entwickelung entfernt hat, habe ich im zweiten Vortrage der Anthropogenie erläutert. Dagegen ist die Keimesgeschichte der Säugetiere erst viel später bekannt geworden. Bei den meisten Mammalieen ist das Ei, wie beim Menschen, sehr klein, mit bloßem Auge kaum als feines Pünktchen sichtbar, von 0,1-0,2 mm Durchmesser. Nachdem dsa zarte durchsichtige Kügelchen aus dem Eierstock ausgetreten ist, kann es nur sehr schwer in der weichen Schleimhaut des Eileiters und des Fruchtbehälters aufgefunden werden. Von vielen der größten Säugetiere sind junge Embryonen noch niemals oder nur selten bekannt geworden; vom Pferde z. B. kennt man noch keine vollständige Entwicklungsreihe. Vom Menschen sind die ersten Stufen derselben (aus der ersten Woche) noch niemals gesehen worden; der jüngste Keim, das 2 mm lange Sandalion, ist schon 10-12 Tage alt (Fig. A, B, C unserer Tafel).

Der Körper dieser jüngsten Embryonen ist bei allen Säugetieren sehr zart und weich; er kann bei der Präparation sehr leicht durch Druck oder Dehnung eine andere Gestalt annehmen; ebenso durch Konservierung in verschiedenen Flüssigkeiten (z. B. Schrumpfung durch Erhärtung in Alkohol). So erklärt es sich, daß die Bilder, welche selbst die sorgfältigsten Beobachter von einem und demselben Objekt geben, vielfach voneinander abweichen. In neuerer Zeit erst sind Normentafeln von zwei Embryologen, die besonders Gewicht auf peinlichste Genauigkeit der Abbildunen legen, von W .   H i s  und F .   K e i b e l , herausgegeben worden; vergleicht man dieselben scharf, so findet man keineswegs die absolute Identität der äußeren Körperform, wie sie in mathematischem Sinne verlangt werden sollte. Ebenso erscheinen auch die zahlreichen Bilder, welche diese und andere zuverlässige Autoren (z. B. R a b l ) von menschlichen Embryonen aus der dritten bis fünften Woche der Entwickelung geliefert haben, keineswegs absolut identisch; selbst die verschiedene Art der graphischen Darstellung bedingt hier gewisse Abweichungen. Auch die Photographie liefert kein besseres Resultat. Außerdem zeigen sich schon frühzeitig wirkliche Formunterschiede der Embryonen bei verschiedenen Rassen oder Varietäten einer und derselben Art (sehr auffallend z. B. beim Hund).

"Die individuelle Variation des Wirbeltierembryo" hat in einer sorgfältigen Arbeit E r n s t   M e h n e r t  eingehend behandelt. Mehr oder weniger auffallende Abweichungen von der gewöhnlichen Norm kommen beim Embryo ebenso wie beim reifen Tiere vor. Es scheint, daß selbst die Embryonen verschiedener Menschenrassen (z. B. Australneger, Japaner, Europäer) schon in frühen Stadien etwas voneinander abweichen. Natürlich kommt es bei diesen Vergleichungen darauf an, daß nur Embryonen derselben Bildungsstufe miteinander verglichen werden, und das ist oft nicht leicht. Bei den jüngeren Embryonen der Säugetiere vollziehen sich z. B. am Kopfe die Umbildungen der Kiemenbögen so rasch und sind so schwierig zu verfolgen, daß die Bilder, wenn sie nicht genau gleichalten Keimen entnommen sind, oft beträchtlich verschieden erscheinen. Auch durch kleine, an sich unbedeutende Abweichungen in der zufälligen Stellung der Gliedmaßenanlagen, oder der Krümmung des Schwanzes, kann die Täuschung wirklicher Differenz entstehen (G .   S c h w a l b e , Morphologische Arbeiten Bd. V, Heft 2, S. 386-444).

Z w e c k   d e r   E m b r y o n e n - V e r g l e i c h u n g .  Angesichts der heftigen Angriffe, die von beiden Jesuitenbünden gegen meine Embryonenbilder gerichtet wurden, ist noch besonders zu betonen, daß diese in p o p u l ä r e n  Schriften erschienen sind; sie sollen dazu dienen, dem Laien eine Anschauung von diesen bedeutungsvollen T a t s a c h e n   d e r   K e i m e s g e s c h i c h t e  zu vermitteln, die seinem Bildungskreise, ebenso wie dem gewöhnlichen Schulunterricht, ganz fern liegen. Daher kam es vor allem darauf an, das W e s e n t l i c h e  hervorzuheben und die unwesentlichen Nebensachen (z. B. Eihüllen, Dottersack) zurücktreten oder ausfallen zu lassen. Dagegen habe ich niemals den Anspruch erhoben, durch diese Darstellungen dem Fachmann neue morphologische Entdeckungen zu bieten. So töricht bin ich nicht, durch "Vorspiegelung falscher Tatsachen" die Embryologen vom Fach irre führen zu wollen, wie B r a s s  und andere meiner jesuitischen Gegener behaupten. Was hätte ich damit erreichen wollen und können? Ich hebe daher ausdrücklich hervor, daß die geringen Veränderungen der äußeren Körperform, die ich hier und da an einzelnen Embryonen vorgenommen habe (- die " g e w i s s e n l o s e n   F ä l s c h u n g e n "  des Keplerbundes! -) lediglich zum Zwecke des besseren Verständnisses für den gebildeten Laien vorgenommen wurden. Es sind " S c h e m a b i l d e r " , Diagramme oder "vereinfachte und schematisierte Figuren", wie sie tausendfach nicht nur in populären Schriften, sondern auch in wissenschaftlichen Werken tagtäglich angewendet werden.

Zur gerechten Beurteilung meiner vielfach getadelten (zuerst 1868 publizierten) vergleichenden Darstellung von Wirbeltier-Embryonen ist zu bemerken, daß damals, vor 42 Jahren, die vergleichende Embryologie noch wenig bearbeitet war; gute Abbildungen, besonders von jüngeren Stufen der Entwickelung, waren selten und schwer aufzutreiben. Erst in den letzten 30 Jahren hat diesser wichtige Zweig der Entwickelungslehre einen mächtigen Aufschwung genommen. Aber auch jetzt noch sind viele empfindliche Lücken in den Beobachtungen vorhanden, die nur durch v e r g l e i c h e n d e   S y n t h e s e  provisorisch ausgefüllt werden können.

Das Recht zu einer Herstellung solcher schematischen Bilder, besonders zur Illustration schwieriger Fromverhältnisse, ist in Lehrbüchern und populären Werken allgemein anerkannt. Ich habe in meinen populären Schriften davon nur den üblichen Gebrauch gemacht und sie niemals für exakt ausgegeben. H .   S c h m i d t  (Dokumente, S. 88) bemerkt darüber treffend: "Der jesuitische Kniff der Keplerbrüder Dennert und Brass liegt darin, daß sie selbst erst entgegen Haeckels eigener Absicht seine s c h e m a t i s c h e n  Abbildungen zu e x a k t  sein sollenden machen, um sie dann mit einem Schein von Recht als wissenschaftliche Fälschungen brandmarken zu können."

Gegenüber den scharfen Angriffen, welche D r .   B r a s s  gegen mich wegen der angeblichen "Fälschungen von Embryonen" gerichtet hat, ist besonders wichtig das Urteil, welches einer der kenntnisreichsten und urteilsfähigsten Embryologen, Professor C a r l   R a b l  (Leipzig) abgegeben hat (in der Frankfurter Zeitung vom 5. März 1909). Nach dem er die "Unwissenheit und Oberflächlichkeit" von Brass und die zahlreichen Fehler, denen manin seiner Schrift über das Affenproblem auf Schritt und Tritt begegnet", schark beleuchtet hat, sagt er über meine schematisierten Bilder: "Von Fälschung und Betrug kann nie un nimmer die Rede sein; davon könnte nur gesprochen werden, wenn absolut naturgetreue Abbildungen zu anderen Schlüssen führten, als die Haeckelschen Schemata; dies ist aber nicht der Fall. Im Laufe der letzten 30 Jahre sind viele Tausende von Embryonen der verschiedensten Wirbeltiere durch meine Hände gegangen, und ich erkläre, daß sich Haeckels phylogenetische Deduktionen durch absolut naturgetreue Bilder weit besser und überzeugender beweisen ließen, als durch seine eigenen Schemata". (Heinrich Schmidt, Dokumente, S. 66.)

Sandalion der Wirbeltiere. Mit dem Namen S a n d a l i o n  oder " S a n d a l e n k e i m "  bezeichnen wir einen der interessantesten und wichtigsten Naturkörper. Das ist jene bedeutungsvolle Keimform der höheren Wirbeltiere oder A m n i o t e n  (Säugetiere, Vögel und Reptilien) welche die einfache Gestalt einer Sandale oder Schuhsohle besitzt; also eine dünne länglich runde Scheibe, die in der Mitte schmäler, an beiden Enden abgerundet und etwas breiter ist (Fig. A, B, C). Der Körper jedes amnioten Wirbeltieres läßt auf dieser frühen Entwickelungsstufe noch nichts von der späteren charakteristischen Gestalt erkennen. Da ist äußerlich noch keine Scheidung von Kopf, Rumpf und Schwanz wahrzunehmen, keine Spur von Sinnesorganen, keine Andeutung der beiden Zygomelen oder Gleidmaßenpaare. Auch fehlt noch die Vertebration oder "Wirbelbildung", jene typische innere Gliederung des Körpers, durch welche derselbe in eine Kette von vielen gleichartigen, hintereinander gelegenen Wirbelstücken zerlegt wird, den Urwirbeln oder Somiten.

Struktur des Sandalion. Der Körperbau des Sandalenkeims, sein Aufbau aus wenigen einfachen Primitivorganen, bleibt bei sämtlichen Amnioten derselbe, wenn auch seine äußere Körperform in den einzelnen Gattungen geringfügigen Abweichungen unterliegt (besonders in dem Verhältnis der Länge zur Breite, in der Abrundung der vorderen und hinteren Hälfte, usw.). öberall besteht der Körper des ungegliederten Sandalion nur aus den vier Keimblättern, aus denen sich ganz allgemein der Leib sämtlicher Wirbeltiere entwickelt, den beiden Grenzblättern (äußerem und innerem, Ektoderm und Entoderm) - und den beiden Mittelblättern, die zwischen beiden liegen und als Mesoderm zusammengefaßt werden. Jedes der vier dünnen, dicht übereinanderliegenden Keimblätter ist aus vielen tausend einfachen Zellen zusammengesetzt. Bei der Ansicht von oben (von der Rückenseite des Keimschildes oder der Embryonalanlage) - wie sie unsere drei Figuren A, B, C zeigen - ist nur das äußere Keimblatt sichtbar, das Hautsinnesblatt. In seiner Mittellinie, zwischen rechter und linker Hälfte, verläuft eine gerade Furche, die Markrinne oder "Medullarfurche", die Anlage des Zentralnervensystems (Rückenmark und Gehirn). Hinter derselben (unten) ist ein kleines rundes Loch sichtbar, der Markdarmgang (Canalis neurentericus); er führt vorübergehend aus dem hinteren, noch offenen Ende der Markrinne in den darunter gelegenen Urdarm, die Anlage des späteren Darmrohres. Diese öffnet sich hinten durch den Urmund (Prostoma oder Blastoporus), früher als Primitivstreif oder Primitivrinne bezeichnet (Fig. A, B, D). Eine eingehende Beschreibung dieser wichtigen Strukturverhältnisse und der merkwürdigen Vorgänge, durch welche sich daraus die späteren Organe entwickeln, habe ich im zwölften und dreizehnten Vortrage meiner Anthropogenie gegeben. (Vgl. besonders S. 313-390 und Taf. IV-XIII).

Menosoma und Embryorgane. D e r   D a u e r l e i b  (Menosoma) der Amnioten, d. h. der bleibende Körper mit allen seinen Organen, entwickelt sich allein aus dem Mittelteil des ganzen Keims, aus dem Sandalion (ursprünglich Discogastrula). Außerdem aber zeigt der Amnioten-Embryo noch eine Anzahl von vergänglichen K e i m o r g a n e n  (Embryorgana), die nur vorübergehend mit dem Sandalenkeim zusammenhängen und keinen Anteil an dem Aufbau des bleibenden Körpers nehmen. Diese sogenannten "extraembryonalen Organe" sind: 1. Der D o t t e r s a c k  (Lecithoma) der zur Ernährung des Embryo dient, 2. der U r h a r n s a c k  (Allantois) ein ambryonales Atmungsorgan, und 3. die schützenden K e i m h ü l l e n  (Embryolemma): Wasserhaut (Amnion), Serumhaut (Serolemma) und Zottenhaut (Chorion). (Vgl. die zwölfte Tabelle meiner Anthropogenie, S. 310.)

Vergleichung der Sandalenkeime. Zu den interessantesten und wichtigsten Schlüssen führt uns die unbefangene k r i t i s c h e   V e r g l e i c h u n g  der Sandalien in den verschiedenen Ordnungen und Familien der A m n i o t e n . Denn überall erscheinen sie in wesentlich derselben Form, überall in der gleichen Zusammensetzung der vier Keimblätter und in beständiger Beziehung zu den Organen, die sich daraus entwickeln. Unter den R e p t i l i e n  besitzen die Eidechsen und Schlangen, die Krokodile und Schildkröten im wesentlichen die gleiche Bildung des Schuhsohlen-Embryo; unter den V ö g e l n  die Hühner und Tauben, die Enten und Finken; under den S ä u g e t i e r e n  die Schnabeltiere und Beuteltiere, die Schweine und Wiederkäuer, die Mäuse und Kaninchen, die Insektenfresser und Raubtiere, die Fledermäuse und Affen (vgl. Taf. IV und V, Taf. VIII-XIII meiner Anthropogenie, und im Texte Fig. 123-138). Wie verschieden sind alle diese mannigfaltig gestalteten Amniontiere im entwickelten Zustande, und dennoch entwickeln sich alle aus der gleichen Keimform! Und wie verhält sich nun das höchste aller Amniotiere, der M e n s c h ?  Er bildet auch hier k e i n e  Ausnahme! (L. 5.)

Sandalion des Menschen. In Fig. B und C unserer Tafel sind die beiden einzigen, sicher und vollständig beobachteten Exemplare des menschlichen Sandalion im frühesten Bildungszustande dargestellt: Kopien aus dem schönen "Handatlas der Entwickelungsgeschichte des Menschen", von J u l i u s   K o l l m a n n  (Jena 1907, Fig. 180, 182). Im Jahre 1889 (- also vor 21 Jahren! -) veröffentlichte Graf F .   S p e e  im Archiv für Anatomie "Beobachtungen an einer menschlichen Keimscheibe mit offener Medullarrinne und Canalis neurentericus". Die vortrefflichen Abbildungen, welche Graf S p e e  von diesem h ö c h s t   w i c h t i g e n   S a n d a l e n k e i m   d e s   M e n s c h e n  und von den bedeutungsvollen Durchschnitten durch denselben gegeben hat, sind in alle neueren Lehrbücher und Atlanten der Embryologie übergegangen, so z. B. in das weitverbreitete "Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere" von O s k a r   H e r t w i g  (8. Auflage, 1906, S. 179, Fig. 222-224). Ich selbst habe sie in meiner "Anthropogenie" wiedergegeben (VI. Aufl. 1910, S. 255, Fig. 100 und S. 320, Fig. 136).

Dieser berühmte Sandalenkeim des Menschen - von zwei Millimeter Länge! - besitzt die h ö c h s t e   B e d e u t u n g , nicht allein für die Ontogenie, sondern auch für die Phylogenie des Menschen. Denn er ist der j ü n g s t e  und kleinste Embryo unseres Geschlechts, von dem wir bis jetzt sichere Beobachtungen und klare, die ganze feinere Struktur enthüllende Durchschnitte besitzen; er ist wahrscheinlich zwölf Tage alt ("vom Ende der zweiten Woche"); jüngere Embryonen des Menschen sind bisher noch nie zur Beobachtung gelangt, obwohl solche täglich tausendweise erzeugt werden. Das " S a n d a l i o n "  besitzt auf dieser frühen Bildungsstufe genau dieselbe äußere Gestalt und dieselbe innere Zusammensetzung, wie bei den nächstverwandten Säugetieren. Die schuhsohlenähnliche dünne Keimscheibe (in der Mitte ein wenig schmäler) ist ungefähr doppelt so lang als breit und zeigt auf der Rückenfläche in der Mittellinie vorn die Medullarrinne (Anlage des Rückenmarks), hinten die P r i m i t i v r i n n e  (den Urmund der Gastrula) und zwischen den beiden, sie verbindend, den "Markdarmgang" (Canalis neurentericus). Auf dem Querschnitt (Anthropogenie, S. 255, Fig. 100) sieht man die vier sekundären Keimblätter. Die Anlage des mittleren Blattes (Mesoderm) und das Verhalten seiner beiden Lamellen zu den beiden Grenzblättern (Ektoderm und Entoderm), sowie ihre Bedeutung für die daraus sich entwickelnden Organe, sind beim Menschen genau dieselben wie bei allen anderen Säugetieren (z. B. beim Kaninchen, Anthropogenie, S. 254, Fig. 99).

Embryorgane des menschlichen Sandalion. Von besonderem Interesse für unseren "Embryonenkampf" ist die eigentümliche Bildung der vergänglichen "extraembryonalen Keimorgane" des menschlichen Sandalenkeims. Der wichtigste Teil dieser Embryo-Organe ist in dem berühmten Embryo des Grafen S p e e  (Fig. B) nur in Bruchstücken erhalten; besser in dem wenig älteren Embryo, welchen E t e r n o d  später abgebildet hat (Fig. C). Beide Figuren zeigen übereinstimmend das A m n i o n  oder die "Wasserhaut", den zarten, mit "Fruchtwasser" gefüllten "Fruchtsack", welcher den Sandalenkeim unmittelbar schützend umfließt. Darunter liegt (auf seiner Bauchseite) der birnförmige Dottersack (Saccus vitellinus) der Rest des ursprünglich größeren Ernährungsorgans, dessen letzter öberrest später noch als "Nabelbläschen" zu finden ist. In dem Sandalion von E t e r n o d  (Fig. C) ist er vollständig erhalten, in dem jüngeren von S p e e  (Fig. B) nur teilweise und zerrissen. Am hinteren Ende, unterhalb der Primitivrinne, sitzt der kurze dicke B a u c h s t i e l  (Pedunculus umbilicalis), der sich später zum Nabelstrang verlängert; das ist der Allantoisstiel, vereinigt mit dem verlagerten Amnionstiel und dem rudimentären Dottersackstiel. Er geht außen über in die Z o t t e n h a u t  (Chorion); von einem abgeschnittenen Bruchstück dieses Chorion sind in Fig. B nur wenige, in Fig. C zahlreiche verästelte Zotten dargestellt. Die glatte Innenfläche des Chorion ist von dem Serolemma oder der "serösen Hülle" ausgekleidet. (Vgl. das Nähere im 15. Vortrage meiner Anthropogenie: "Keimhüllen und Keimkreislauf".)

Bauchstiel des Menschenkeims. Aus einem Teile der Zottenhaut (Chorion) und der Blutgefäße, welche durch den Allantoisstiel zu ihr übergeführt werden, entwickelt sich das wichtigste Ernährungsorgan des Embryo, der Gefäßkuchen oder "Mutterkuchen" (Placenta). Der feinere Bau dieses Embryorgans und sein Verhalten zum Bauchstiel, zeigen beim Menschen verwickelte und ganz eigentümliche Verhältnisse, und die Gegner der Abstammungslehre wiesen noch vor 20 Jahren triumphierend darauf hin, daß hier ein ganz besonderer Unterschied des Menschen von allen übrigen Säugetieren vorliege. Da zeigte 1890 S e l e n k a  durch sehr gründliche Untersuchungen, daß ganz dieselbe eigentümliche Plazentabildung auch bei den M e n s c h e n a f f e n  vorkommt, beim Orang und Gibbon. Somit ist sie nicht ein Gegenbeweis gegen die nahe Blutsverwandtschaft des Menschen und der Menschenaffen, sondern ein neuer schlagender Beweis zu ihren Gunsten (Anthropogenie S. 401, 660, 661).

Urmund des Menschenkeims. Als ich 1872 (in meiner Monographie der Kalbschwämme) die Lehre von der Homologie der Keimblätter bei allen Metazoen (oder vielzelligen "Gewebetieren") aufstellte und sie bald darauf in den "Studien zur Gasträatheorie" (1874) weiter ausführte, wies ich mit Nachdruck darauf hin, daß das älteste gemeinsame Organ aller Metazoen der U r d a r m  sei, und seine ôffnung der U r m u n d . Der ganze Leib der Gewebtiere ist auf der Bildungsstufe der Gastrula im einfachsten Falle ein länglich rundes Säckchen oder Bläschen, dessen dünne Wand nur aus zwei einfachen Zellenschichten besteht, den beiden "Primären Keimblättern" (Ektoderm und Entoderm); seine einfache Höhlung ist der Urdarm, seine ôffnung der Urmund (Anthropogenie, S. 161 und 551). Indem ich nachwies, daß die mannigfach verschiedenen Keimformen aller Metazoen sich auf eine solche gemeinsame Urform der Gastrula zurückführen lassen, gründete ich (- gestützt auf das biogenetische Grundgesetz -) darauf den Schluß, daß alle Gewebtiere sich entsprechend von einer gemeinsamen Stammform (Gastraea) hypothetisch ableiten lassen. Diese G a s t r ä a t h e o r i e  ist jetzt, nach langen Kämpfen, ziemlich allgemein angenommen; nur Dr. B r a s s  verwirft sich vollständig und sagt: "Die ganze Gasträatheorie ist nichts anderes als ein Zeugnis für die Unkenntnis physiologischer Tatsachen." (Wahrheit 1906, S. 29).

Die eigentümliche Form der sogenannten " P r i m i t i v r i n n e " , welche der Urmund bei den Amnioten annimmt, verhält sich beim Menschen ebenso wie bei den Menschenaffen. Hinter dem Markdarmgang (Canalis neurentericus) zieht sich in der Mittellinie des Sandalion (- in der Längsachse des Körpers, entgegengesetzt der nach vorn sich erstreckenden Medullarfurche -) eine Furche gegen das Hinterende herab. Diese "Primitivrinne" ist der Urmund, in den Abbildungen von S p e e  (Fig. B) und von E t e r n o d  (Fig. C) deutlich erkennbar. Was sagt nun B r a s s  darüber? "Welchen Zweck sie hat, das wissen wir nicht; ob sie beim Menschen vorhanden ist, das wissen wir noch weniger; denn die ersten Entwicklungsstadien des Menschen hat bis heute noch keines Menschen Auge zu sehen bekommen, trotz der schönen Abbildungen, die Haeckel sienen gläubigen Lesern immer wieder als beweisende Tatsachen davon vorzusetzen beliebt" (Wahrheit 1906, S. 53).

Diese erstaunlichen Behauptungen von B r a s s  lassen sich nur durch zwei Annahmen erklären! E n t w e d e r  dur auffallende U n k e n n t n i s  der wichtigsten T a t s a c h e n , o d e r  durch L e u g n u n g  derselben " Z u   E h r e n   G o t t e s "  ("In majorem Dei gloriam"), wie er am Schlusse seines "Wahrheits"-Pamphlets sagt (S. 44). E n t w e d e r  kennt dieser große Embryologe (der sich als kompetenter Fachmann auf dreißigjährige Erfahrung beruft!) die wichtige, seit zwanzige Jahren bekannte Primitivrinne des menschlichen Sandalalenkeims nicht, o d e r  er unterschlägt sie und leugnet ihre Existenz, um die Sonderstellung des Menschen (als " E b e n b i l d   G o t t e s " !) zu retten. Eine solche " f r e c h e   F ä l s c h u n g "  ist ja nach dem bekannten Jesuitenkodex durchaus erlaubt, ja löblich, wenn sir nur "zu Ehren Gottes" geschieht, d. h. zum Nutzen der Ecclesia militans (- und insonderheit der Kasse des frommen "Keplerbundes"! -)





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erstellt von Christoph Sommer am 13.12.1999