"Ernst Haeckel - Sandalion"

6. Kapitel

Keplerbund




Die ergiebigste Quelle der zahlreichen Anklagen, welche die Jesuitenpresse seit einigen Jahren wegen angeblicher Bilderfälschungen gegen mich richtet, ist D r .   A r n o l d   B r a s s . So ungern ich auch den persönlichen Charakter meiner Gegner berühre, so bin ich doch in diesem Fall dazu gezwungen. Denn B r a s s  gilt als der sachverständige K r o n z e u g e  des großen "Embryonen-Prozesses"; auf seine A u t o r i t ä t  gründen sich die zahlreichen, gegen mich erhobenen "Fälschungsanklagen". Er zeichnet sich vor den meisten übrigen Naturforschern des Keplerbundes durch eigenartige Kenntnisse in den Gebieten der Zoologie und Anthropologie, der vergleichenden Anatomie und Ontogenie aus; aber er m i ß b r a u c h t  diese in ausgiebigster Weise, um die Erkenntnis der Wahrheit zu verschleiern (- oder wie er angibt, zu "fördern" -). B r a s s  wird daher auch von der ganzen klerikalen Presse, und speziell von den Kepleristen-Blättern als derjenige "große Naturforscher" gefeiert, der als heiliger Ritter Georg den ungläubigen Drachen "Monismus" getötet und neben dem persönlichen Gott dessen "Ebenbild", den Menschen mit seinem unsterblichen Geiste, gerettet hat.

In vielen Zeitungsartikeln, welche sich mit diesem Kampf beschäftigen, wird irrtümlich die Behauptung wiederholt, daß D r .   B r a s s  sich seit langer Zeit in einem wissenschaftlichen Streite mit mir befinde und daß er mich gründlich geschlagen habe. Demgegenüber muß ich zunächst feststellen, daß ich bis vor zwei Jahren niemals Veranlassung hatte, mich mit ihm überhaupt zu befassen. Denn die zahlreichen kleinen Arbeiten von B r a s s  sind so unbedeutend, daß sie keine Spur in der Wissenschaft hinterlassen haben, und seine Atlanten der menschlichen Anatomie und Gewebelehre, der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte sind so minderwertig und fehlerhaft, daß Professor C a r l   R a b l  in Leipzig seine Zuhörer geradezu vor letzteren warnen mußte.

Im Sommer 1906 veröffentlichte B r a s s  eine Broschüre von 96 Seiten unter dem Titel: " E r n s t   H a e c k e l   a l s   B i o l o g e   u n d   d i e   W a h r h e i t "  (Stuttgart 1906; ich zitiere sie im folgenden als: "Brass, Wahrheit"). Sie enthält die schärfsten Angriffe auf meine monistische Naturphilosophie, (besonders in den "Welträtseln") und ists voll von Entstellungen und U n w a h r h e i t e n . Ich habe sie damals ignoriert, wie zahlreiche andere Kampfschriften gegen die "Welträtsel". B r a s s  entgegenzutreten wurde ich erst zwei Jahre später gezwungen, nachdem er (am 1. April 1908) in einer Versammlung der christlich-sozialen Partei in Berlin geredet und mich scharf wegen gefälschter Embryonenbilder angegriffen hatte: "Der Redner konnte hier aus allergenauester persönlicher Kenntnis sprechen, da er die richtigen Zeichnungen seinerzeit selbst für Haeckel hergestellt habe"! So stand in der "Staatsbürgerzeitung" und vielen anderen Blättern zu lesen. K e i n   W o r t   d a v o n   i s t   w a h r !  Erst durch diese schwere V e r l e u m d u n g  wurde ich zu einer öffentlichen Richtigstellung des Sachverhalts genötigt und später zu der Erklärung vom 24. Dezember 1908, auf die ich noch zurückkommen muß. Darauf antwortete dann B r a s s  in einer zweiten Schmähschrift von 88 Seiten, die 1909 in zweiter Auflage erschien, betitelt: "Das Affenproblem, Professor Ernst Haeckel, seine Fälschungen der Wissenschaft und ihre Verteidigung durch deutsche Anatomen und Zoologen" (86 Seiten, Leipzig). Die Wechselfälle des widerwärtigen Kampfes, der sich daran knüpfte, erläutert und belegt mit den wichtigsten Aktenstücken, sind dargestellt in der "Dokumenten-Broschüre" von D r .   H e i n r i c h   S c h m i d t . 

Da A r n o l d   B r a s s  jetzt sowohl von der katholischen als von der evangelischen Jesuitenpresse als "einer der größten Zoologen der Gegenwart" gerühmt wird (- ein bedenklicher Rivale für W a s m a n n !  -), und da ich selbst nach ihrer Ansicht von diesem "ebenbürtigen Gegner" vernichtet bin, sehe ich mich gezwungen, wenigstens einen Teil seiner Fälschungen zu beleuchten. Vor allem aber ist notwendig, die eigentlichen Ziele und M i t t e l  seiner gehässigen Polemik klar zu beleuchten. Der unparteiische Leser, der beide Gegner nicht kennt, dürfte vermuten, daß sich dahinter eine persönliche Feindschaft verbirgt. Das ist durchaus nicht der Fall. Die Person von D r .   B r a s s  ist mir ganz gleichgültig. Das wahre Ziel seiner pöbelhaften Angriffe ist einerseits die Förderung seiner S t e l l u n g  durch den Keplerbund, andrerseits R e k l a m e   f ü r   s e i n   P e r s o n !  Und ich muß ihm die Anerkennung lassen, daß er dieses Ziel mit erstaunlichem Erfolge erreicht hat - ähnlich wie vor einem Jahre der berüchtigte P e t e r   G a n t e r  mti seinen Tausenden von "blauen Briefen", in denen er seine " d o p p e l t e   M o r a l "  empfiehlt. B r a s s  selbst erzählt in seinen Schmähschriften ausführlich und mit tiefem Schmerz, daß alle seine Bemühungen, eine Professur der Zoologie zu erhalten, vergeblich gewesen seien. Dabei dichtet er mir noch eine besondere Schuld an ("Affenproblem" S. 39): "Im Jahre 1886 habe ich in Marburg Habilitationsschriften über die Säugetiere eingereicht. Diese Kühnheit hat Haeckel und Andere damals arg in Zorn versetzt." - Gegenüber dieser E r f i n d u n g  von B r a s s  kann ich nur erklären, daß ich weder damals noch später davon etwas gewußt habe. Ich muß aber noch hinzufüggen, was Professor R i c h a r d   H e r t w i g  in seiner offenen Antwort an Baron v o n   P e c h m a n n  (am 23. Februar 1909) sagt: "Meine Entrüstung (- über die P r o v o k a t i o n   d e s   K e p l e r b u n d e s  -) war um so lebhafter, als ich dem Namen B r a s s  zum erstenmal wieder begegnete, nachdem die wissenschaftliche Tätigkeit des Mannes auf dem Gebiete der Zoologie vor 25 Jahren mit einem Mißerfolg ihr v e r d i e n t e s   E n d e  gefunden hatte." (H. S. Dokumente, S. 62.)

Als o f f i z i e l l e r   W a n d e r r e d n e r  des Keplerbundes ist D r .   A r n o l d   B r a s s  sehr tätig. Eine authentische "Mitteilung des Keplerbundes" (vom Februar 1909) empfiehlt ihn mit folgenden Worten: "Im A u f t r a g e   d e s   K e p l e r b u n d e s  hält der durch seine zoologischen, anatomischen und optischen Spezialarbeiten bekannte Naturforscher Herr D r .   A r n o l d   B r a s s  Vorträge aus denjenigen Gebieten der Naturwissenschaft, welche in unseren Tagen das größte Interesse erwecken und vielfach in tendenziöser Weise dargestellt und mißbraucht werden. - Die im Laufe dieses und des vorigen Winters in zahlreichen Städten gehaltenen Vorträge fanden stets in vollbesetzten, oft in überfüllten Sälen statt; in vielen Fällen wurde noch ein öberschuß über die Kosten des Vortrags erzielt. Das Herrn D r .   B r a s s  zustehende H o n o r a r   i s t   i h m   b u n d e s s e i t i g   g a r a n t i e r t " < / I >  (!) - Es ist wichtig, diese offizielle Erklärung des evangelischen Jesuiten-Bundes festzunageln. Denn in demselben Jahre 1909 gibt B r a s s  selbst folgendes Bekenntnis ab: "Außerdem bin ich frei und lasse mich von Niemandem zu Vorträgen, Verteidigungen usw. bestimmen. Ich bin weder Wanderredner des Keplerbundes, noch beziehe ich von dieser Vereinigung irgendwelches Gehalt oder Unterstützungen." (Teudt, Im Interesse der Wissenschaft, 1909, S. 63.) Das ist die vielgepriesene christliche Wahrheitsliebe der frommen Kepleristen! Wir können es Herrn T e u d t  und Herrn B r a s s  selbst überlassen, ihren fragranten Wiederspruch zu lösen!

Die zahlreichen offenkundigen U n w a h r h e i t e n  in den Schriften und Vorträgen des Herrn D r .   A r n o l d   B r a s s  zum Teil bloße I r r t ü m e r , auf mangelhafter Kenntnis der Tatsachen und oberflächlicher Bildung beruhend; zum andern Teil sind es sophistische Entstellungen der Verhältnisse, echt jesuitische T r u g s c h l ü s s e  (- "zur Größeren Ehre Gottes"! - ); zum großen Teil endlich sind es bewußte Unwahrheiten, die man im gewöhnlichen Leben Lügen zu nennen pflegt. Es würde ein dickes Buch geben, wollte man alle diese "Irrtümer" untersuchen, richtig stellen und widerlegen. Ich verzichte auf diese widerwärtige Arbeit, die gegenüber einem Jesuiten-Konsortium ganz nutzlos sein würde. Vielmehr beschränke ich mich auf kritische Beleuchtung einiger wenigen Fälle, die jedem Ehrlichen und Einsichtigen ohne weiteres klar sind.

Skelette von Menschenaffen! Wenige Betrachtungen wirken so unmittelbar überzeugend für die nahe Verwandtschaft von Mensch und Menschenaffen , wie die k r i t i s c h e   V e r g l e i c h u n g  ihrer Skelette. Es war daher ein glücklicher Gedanke des genialen T h o m a s   H u x l e y , daß er in seiner grundlegenden Abhandlung über "Die Stellung des Menschen in der Natur" (1863) auf dem Titelbilde die Skelette des Menschen und der heute noch lebenden vier Menschenaffen (Gorilla, Schimpanse, Orang, Gibbon) nebeneinander stellte. Ich habe 1874 diese höchst instruktive Tafel in meiner Anthropogenie kopiert (VI. Aufl. 1910, S. 672). Später habe ich in meinen Berliner Vorträgen über dem "Kampf um den Entwicklungsgedanken" (1905, S. 40, Tafel II) dieselbe durch eine ähnliche Tafel ersetzt, welche die gleichen fünf Skelette nach guten Exemplaren meiner eigenen Sammlung darstellt. Absichtlich habe ich von Schimpanse und Orang jüngere Personen gewählt, weil bei ihnen die Menschenähnlichkeit mehr hervortritt, als bei älteren. Die Skelette sind von meinem bewährten Mitarbeiter Herrn A d o l f   G i l t s c h  p h o t o g r a p h i s c h  aufgenommen; weder er noch ich haben an den Bildern irgendwelche Veränderung der Form oder der Stellung vorgenommen.

Was sagt nun H e r r   B r a s s  zu diesen klaren, vollkommen naturgetreuen Photogrammen? Er ergeht sich - "zur größeren Ehre Gottes"! - in folgenden Fälschungen (Affenproblem 1909, S. 8): "Diese Tafel zeigt absichtliche E n t s t e l l u n g e n  zugunsten der falschen öberschrift (- Skelette der fünf Menschenaffen -). Der aufrechte Gang des Menschen ist vertuscht und der Gorilla ist mit durchgedrücktem Knie gehend dargestellt. Falsch ist die Gehstellung bei allen seinen Affen. . . . Diese Tafel ist eben ein Beispiel dafür, wie Haeckel die Arbeiten anderer mißbraucht!" - Ich darf wohl darauf mit seinen eigenen Worten entgegnen: Diese dreiste L ü g e  "ist eben ein Beispiel dafür, wie" H e r r   B r a s s  durch ausgedachte V e r l e u m d u n g  "einen guten Eindruck auf alle gläubigen Leser machen" will (S. 9). Indem er ferner beweisen will, meine nach der Natur p h o t o g r a p h i e r t e  Tafel sei "frei entstellt und willkürlich falsch bearbeitet" (S. 8), stellt er kindische Betrachtungen über den Gang der Menschenaffen an, welche nur seine oberflächliche Kenntnis dieser wichtigsten Primaten beweisen; er weiß nciht einmal, daß der Gibbon beim aufrechten Gang genau so mit der flachen Fußsohle auftritt, wie der Mensch. Bei einem jungen G i b b o n  (Hylobates leuciscus), den ich selbst auf Java mehrere Monate lebend in meiner Wohnung hielt, konnte ich das alle Tage beobachten (vgl. mein " I n s u l i n d e " , 1901, S. 227, Fig. 68, 69).

Bilder im Phyletischen Museum! In dem neuen Museum für Entwicklungslehre, welches ich in Jena Anfang 1907 gegründet und am 30. Juli 1909 der Universität Jena (bei Gelegenheit ihrer 350jährigen Jubelfeier) als Geschenk übergeben habe, sollen die wichtigsten Objekte der Keimes- und Stammesgeschichte dem Publikum nicht nur in Präparaten vorgeführt, sondern auch durch Abbildungen und Beschreibungen erläutert werden. Die dazu gehörigen Tafeln e x i s t i e r e n   n o c h   n i c h t ; sie sind noch nicht einmal entworfen, geschweige denn ausgeführt. Diese T a t s a c h e  hindert aber Herrn D r .   B r a s s  nicht, seinen "gläubigen Lesern" (S. 9) folgende Lüge aufzutischen: "Einen Teil der Tafeln, welchem dem Museum als bilden sollende Anschauungsmittel dienen werden, habe ich persönlich gesehen. Nun ich habe mich für Haeckel und seine Freunde geschämt!" (Affenproblem 1909, S. 10.) Und gehüllt in den bestechenden Mantel moralischer Entrüstung fügt er hinzu, mit besonderer Rücksicht auf den S a n d a l e n k e i m  (S. 11): "Solche verwerfliche Verdrehungen der Natur und der mühsam gewonnenen Resultate unserer Wissenschaft verdienen eigentlich mehr als Hohn und Spott. . . . Das ist eine Schande für deutsches Können!" (fettgedruckt S. 11!)

Die Familie des Affenmenschen (Pithecanthropus alalus), ôlbild von Professor G a b r i e l   v o n   M a x  in München (verkleinerte Kopie - Photogravüre - in meiner "Naturlichen Schöpfungsgeschichte", XI. Aufl. 1909, S. 104, 715, 758). Dieses berühmte Bild, welches der geistvolle Münchener Seelenmaler mir zu meinem 60. Geburtstag (1894) verehrte, erregte großes Aufsehen und unterlag der verschiedensten Beurteilung; ich habe vier verschiedene Deutungen in meiner Erklärung selbst besprochen (a. a. O. S. LXVIII). Selbstverständlich kann diese Komposition nur ein k ü n s t l e r i s c h e r   V e r s u c h  sein, die äußere Gestalt der ausgestorbenen "Affenmenschen" - d. h. der öbergangsformen vom Menschenaffen zum Menschen - ungefähr so hypothetisch darzustellen, wie sie sich aus den wichtigen (Gabriel von Max wohlbekannten!) Ergebnissen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie annähernd erraten läßt. Ich habe das besonders hervorgehoben und dabei betont, wie sehr sich die " P h a n t a s i e  des genialen Künstlers" auf seine gründliche Kenntnis des Primaten-Organismus stützt. Dem gegenüber tische nun B r a s s  (- der dies alles w e i ß !  -) seinem frommen Keplerbunde folgende unglaubliche U n w a h r h e i t  auf ("Wahrheit", 1906, S. 7): "Wenn H a e c k e l  in seiner `Natürlichen Schöpfungsgeschichte` das w a h n w i t z i g e , ihm persönlich von G a b r i e l   M a x  auf Leinwand phantasierte Bild des Affenmenschen den ganzen deutschen Volke als e c h t  zu bieten wagt, wenn er und sein Gefolge dann durch Wort und Schrift nebenher alles verhöhnen, was weiteste Kreise unseres Volkes als ihr B e s t e s  betrachten, so wirken sie mit derart tendenziösen wissenschaftlichen U n w a h r h e i t e n  demoralisierend. Der G l a u b e  and die K o r r e k t h e i t  des Bildes und an die W a h r h e i t  des im Texte Gebotenen, den Haeckel von seinen Lesern und Anhängern in erster Linie ganz bedingungslos fordert, bedeutet nur die V e r h e r r l i c h u n g   d e r   B e s t i e  im Menschen!" Eine Erläuterung zu dieser schamlosen und böswilligen, echt jesuitischen Entstellung der Wahrheit ist überflüssig. Soviel Sätze, soviel Lügen!

Mutterliebe bei Affen und Menschen. Jeder der in zoologischen Gärten oder sonstwo eine zärtliche Affenmutter mit ihren sorgfältig behüteten Jungen gesehen hat, kennt aus eigener Anschauung die sprichwörtlich gewordene " A f f e n l i e b e " ; sie wird ja uach öfter (- mit Recht! -) bei überzärtlichen menschlichen Müttern mit diesem Ausdruck belegt. Bisher hat wohl noch niemand daran gezweifelt, daß diese Form der "Brutpflege", die Mutterliebe, dem Ursprung und dem Wesen nach beim Menschen und den höheren Tieren auf denselben psychologischen Prozessen beruht. Erst B r a s s  war es vorbehalten, diesen Irrtum aufzuklären. Anknüpfend an jenes Bild der Affenmenschen-Familie, auf welchem G a b r i e l   v o n   M a x  der säugenden Mutter, mit dem Kind an der Brust, einen besonders sinnigen und zarten Gesichtsausdruck verliehen hat, belehrt uns B r a s s , daß gerade "die s e l b s t l o s e  Mutterliebe und Muttersorge den Menschen s c h a r f  von allen Säugetieren trennt, und unerreichbar weit von tierischen Trieben und Instinkten abrückt." )("Wahrheit, 1906, S. 7.") Da B r a s s  sich "am s i c h e r s t e n  im positiven Wissen fühlt (S. 7) und dem Zoologen Haeckel gegenüber sich nicht minderwertig, auf dem Gebiete der Physik aber entschieden überleben fühlt" (S. 9) so wird er vielleicht seine neue Deutung der Mutterliebe nächstens " p h y s i k a l i s c h "  begründen. Oder sollte vielleicht der geringe Unterschied in der c h e m i s c h e n  Zusammensetzung der Milch beim Menschen und den übrigen Säugetieren jene "scharfe Trennung" bedingen? Indessen bin ich bei meiner mangelhaften zoologischen Bildung nicht berechtigt, in diesen schwierigen Fragen mitzureden; das hat Brass deutlich gezeigt: "H a e c k e l  weiß leider nicht genau, was ein W i r b e l t i e r  ist; vor allen Dingen hat er von der Natur der S ä u g e t i e r e  herzlich wenige positive Kenntisse!" (- Zum Belege vergleiche man meine Anthropogenie und die Systematische Phylogenie der Säugetiere, 7. Kapitel meiner Systematischen Phylogenie der Wirbeltiere 1895. -)

Rudimentäre Organe. " ö b e r f l ü s s i g e   r u d i m e n t ä r e   O r g a n e  gibt es nicht!" ("Wahrheit" 1906, S. 68.) Mit diesem überraschenden Dekrete streicht B r a s s  auf einen Schlag ein ganzes großes Kapitel der Zoologie und Botanik, eines der interessantesten Kapitel der ganzen Biologie. Jeder Naturforscher, der nur ein wenig mit Systematik und Morphologie, oder mit Bionomie und Physiolgie der Tiere und Pflanzen sich beschäftigt hat, weiß, daß neben den "zweckmäßigen" Einrichtungen der Organisation überall eine große Zahl von Körperteilen zu finden ist, welche keinen "Zweck" erfüllen, welche nutzlose, überflüssige Anhängsel des Organismus sind und ohne jeden Schaden für denselben entfernt werden können. Beispiele hier dafür anzuführen, ist überflüssig; ich habe im ersten und zwölften Kapitel der "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868) deren eine Anzahl zusammengestellt und darauf hingewiesen, wie diese "verkümmerten, fehlgeschlagenen oder abortiven Organe" die höchste Bedeutung für die Deszendenztheorie und die darauf gegründete monistische Weltanschauung besitzen. Im 19. Kapitel der Generellen Morphologie (1866) hatte ich diese bedeutungsvollen Erscheinungen eingehender erörtert und einen besonderen Zweig der biologischen Philosophie als U n z w e c k m ä ß i g k e i t s l e h r e  (Dysteleologie) dafür gegründet, als Gegenstück zu der herrschenden und althergebrachten Z w e c k m ä ß i g k e i t s l e h r e  (Teleologie). Seitdem ist in Tausenden von Arbeiten die weite Verbreitung und die hohe phyletische Bedeutung dieser rudimentären Organe anerkannt und zugestanden worden, daß sie nur durch die Abstammungslehre zu erklären und daher wertvolle indirekte Beweise für deren Wahrheit sind. Alle diese Arbeiten waren vergebens! Denn Brass dekretiert jetzt, daß sein anthropistischer Schulgott, der allweise und allmächtige Weltenbaumeister, von Anfang an alles für einen ganz bestimmten höheren Zweck weise eingerichtet und frei erfunden hat (S. 72, 73). Speziell für den M e n s c h e n  behauptet er, "daß im Aufbau seines Körpers und in der Tätigkeit seiner Organe auch nicht der kleinste öberfluß, nicht die geringste Unzweckmäßigkeit herrscht" (S. 68). Nun vergleiche man hierzu das treffliche Buch von R .   W i e d e s h e i m : "Der Bau des Mesnchen als Zeugnis für seine Vergangenheit" (4. Aufl. 1908). Hier sind sehr zahlreiche rudimentäre Organe an unserem Körper eingehend untersucht und gezeigt, daß sie sich nur durch unsere Abstammung von niederen Wirbeltieren erklären lassen. Man erstaunt über die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit der Keplergemeinde, die sich von ihrem Zoologen Brass solche dreiste Unwahrheiten aufbinden läßt!

Gewebe des Menschen. Der "Keplerbund" hält es für eine seiner wichtigsten Aufgaben, die "Frage aller Fragen", das Menschenproblem, in rein dualistischem Sinne zu erledigen: D r .     B r a s s  bringt nun folgende "Beweise" für die isolierte Sonderstellung des Menschen in der Natur: "Die Zellen der Gewebe des Menschen unterscheiden sich g a n z   a u f f ä l l i g  von denen anderer Säugetiere." ("Wahrheit" 1906, S. 34.) Diese Behauptung von B r a s s , die er mir "als kompetenter Fachmann verraten will", ist eine dreiste E r f i n d u n g , bloß darauf berechnet, sein "Kepler-Publikum" irrezuführen. Jeder Histologe, je jeder Student, jeder Arzt, der jemals die Gewebe des Menschen sorgfältig mikroskopisch untersucht hat, weiß, daß deren gröbere und feinere Struktur, die morphologischen und physiologischen Eigenschaften der sie zusammensetzenden Zellen, beim Menschen dieselben sind wie bei den übrigen Säugetieren. Seit 60 Jahren, seitdem Tausende von genauen Beobachtungen über die Struktur der Epithelien und Drüsen, der Knorpel und Knochen, der glatten und quergestreiften Muskeln, der Nerven und Ganglienzellen angestellt wurden, ist es nicht gelungen, irgendwelche histologischen Unterschiede zwischen den Menschen und den übrigen Säugetieren festzustellen. In allen histologischen und anatomischen Lehrbüchern werden Tausende von Figuren dieser Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe abgebiuldet, die von verschiedenen Säugetieren entnommen sind und zugleich für den Menschen gelten sollen. Diese müssen sämtlich (- nach der Auffassung von B r a s s  und D e n n e r t  -) für " v e r w e r f l i c h e   F ä l s c h u n g e n "  erklärt werden, welche "das Ansehen der Wissenschaft auf schwerste schädigen." Erst dem großen B r a s s  war es vorbehalten, endlich die merkwürdigen Eigentümlichkeiten zu entdecken, welche eine histologische Scheidewand zwischen dem Menschen und den übrigen Säugtieren aufrichten; leider hat er uns nicht "verraten", worin dieselben bestehen.

Kritik der Stammbäume. Brass behauptet in seiner "Wahrheit" (1906, S. 25): "Die Stammbäume, welche Haeckel und seine Schüler hypothetisch aufstellen, erscheinen dem Fachmann wie eine zum Teil a b s i c h t l i c h e , wider besseres Wissen abgegebene E n t s t e l l u n g   d e r   T a t s a c h e n ." Die U n w a h r h e i t  dieser Behauptung liegt für jeden ehrlichen und sachkundigen Fachmann klar zutage. Seitdem ich 1866 in der Generellen Morphologie die ersten Entwürfe von Stammbäumen gegeben, sie in der "Systematischen Phylogenie" strenger ausgeführt, in der "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" weiteren Kreisen zugänglich gemacht habe, war ich stets bemüht, ihre Bedeutung als h e u r i s t i s c h e r   H y p o t h e s e n  zu betonen, und als solche haben sie (ebenso wie Tausende von ähnlichen Versuchen anderer Zoologen und Botaniker) bereits große Dienste geleistet. Immer habe ich ihren p r o v i s o r i s c h e n  Charakter hervorgehoben und nach bestem Wissen mich bemüht, sie möglichst naturgemäß den bekannten T a t s a c h e n  anzupassen.

Eizelle des Menschen. Den Ausgangspunkt aller Untersuchungen über die individuelle Entwicklung bildet beim Menschen, wie bei allen übrigen Tieren, die Eizelle. Ich habe deren Bildung und Bedeutung in meiner Anthropogenie ausführlich besprochen und durch zahlreiche Abbildungen erläutert. Daher kann ich mich hier auf eine kurze Kritische Betrachtung der wichtigsten Verhältnisse beschränken; diese ist aber deshalb nicht zu umgehen, weil die Pharisäer des Keplerbundes auch hier die Wahrheit zu fälschen versuchen; sie behaupten, daß der Mensch schon im Beginne seiner Existenz, als Eizelle, "ganz Charakteristisches" zeige, das bei den Eizellen der Affen nicht zu finden sei (Brass 1906, S. 28). Dieser "christliche Embryologe" scheint durch "göttliche Offenbarung" mikroskopischer Enthüllungen teilhaftig zu werden, die allen übrigen Beobachtern verschlossen sind; er flunkert: "Die menschliche Eizelle unterscheide i c h   w e n i g s t e n s  noch a b s o l u t   s i c h e r  von der zahlreicher Affen." (S. 34); - leider hat er weder in Wort noch in Bild angegeben, worin diese "Charakteristischen Unterschiede" bestehen! Er vertröstet uns bezüglich dieser, wie anderer wichtigen Enteckungen immer auf seine zukünftigen Werke: "Davon noch später"

Selbstverständlich sind i n d i v i d u e l l e  "Verschiedenheiten" der Eizellen beim Menschen wie bei allen höheren Tieren, sicher anzunehmen; denn die bekannte Tatsache der individuellen Ungleichheit aller einzelnen Personen (- auch aller Kindes eines Elternpaares -) ist auf verschiedene c h e m i s c h e  Beschaffenheit oder Molekulardifferenzen der beiden Keimzellen zurückzuführen, aus deren Vermischung das Individuum im Momente der Befruchtung entsteht. Aber diese Unterschiede, die wir hypothetisch voraussetzen müssen, sind weder durch das Mikroskop noch durch das chemische Experiment nachzuweisen. Vielmehr erscheint das Ei des Menschen dem Ei anderer höherer Säugetiere, auch bei Anwendung der stärksten Vergrößerung und der feinsten chemischen Reagentien, so ähnlich, daß niemand sie unterscheiden kann.





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erstellt von Christoph Sommer am 13.12.1999