Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

91. Brief

Würzburg, 13. 8. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Die Meeresfauna von Nizza gehört zu den reichsten und glänzendsten, die wir kennen. Nicht nur kommen dort alle in Helgoland vertretenen Seetiergattungen mit ihren reichen, schönen und mannigfaltigen Arten vor, sondern auch wimmelt es daselbst von den vielen und grade höchst merkwürdigen und lehrreichen Familien, welche in Helgoland selten sind oder ganz fehlen. Dahin gehören aber grade die merkwürdigsten aller wirbellosen Tiere, vor allem die prachtvollen Siphonophoren oder Schwimmpolypen, dann die Salpen, das unzählige Heer der Tintenfische oder Kephalopoden, die Rippenquallen, eine Auswahl der wunderbarsten Fische, Krebse und Muscheln, die Pteropoden usw. usw. Kurz, Nizza ist in dieser Beziehung das einstimmig anerkannte Paradies des wissenschaftlichen Zoologen. Daß ich nun in diese fast überwältigende Fülle, in der ich mich nur sehr schwer zurechtfinde, an der Hand eines erfahrenen Gelehrten eingeführt werden soll, der alle diese Formen schon gründlich kennt, daß dieser Mentor noch dazu mein höchst verehrter Lehrer Kölliker, dem ich die Grundlage meiner ganzen anatomischen Bildung verdanke, sein soll, daß ich jetzt noch als Student mit dem empfänglichsten, jugendlich frischesten Gemüte diese Eindrücke aufnehmen soll, das ist in der Tat ein Glück, wie es nur äußerst selten geboten wird und wie ich es nur im Traum ahnen konnte. Ein Hauptvorteil, den mir der Aufenthalt in Nizza bringen würde, wäre ferner die Erlangung einer zootomischen Dissertation, was mir sehr lieb sein würde. Daß es dort an Stoff dazu nicht mangelt, versteht sich von selbst. Von den außerordentlichen Naturgenüssen, die ich außerdem in Nizza, einem der herrlichsten Punkte der Mittelmeerküste, mit seiner prächtigen südlichen Vegetation und Seeflora, haben würde, will ich ganz schweigen, da diese nicht in Betracht kommen können, obwohl sie nach einem ganzen Sommer schwerer pathologisch-anatomischer Arbeit wohl verdient sein dürften! Nur der großen Vorteile, welcher auch mein einer Ausspannung aus der Stubenatmosphäre jetzt recht bedürftiger Körper davon haben dürfte, namentlich der köstlichen Seebäder, möchte ich noch erwähnen . . .

Euer treuer alter Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999