Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

90. Brief

Würzburg, 4. 8. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Wie gerne wäre ich bei Euch, zumal mir jetzt eine gründliche Ausspannung aus meinen bisherigen Verhältnissen immer dringender nötig erscheint, um mich geistig und körperlich flott zu erhalten. Die verflossenen drei Sommermonate sind mir zwar in jeder Hinsicht äußerst nützlich gewesen, und ich habe es bisher in keiner Weise zu bereuen gehabt, diesen ganzen Sommer dieser Stellung geopfert zu haben. Ich habe erstens die pathologische Anatomie, mit der ich mich nun seit 1 1/2 Jahr unter Virchows Anleitung fast ausschließlich beschäftigte, ex fundamento losgekriegt, mehr, als ein gewöhnlicher Medikus nötig hat. Ich habe ferner durch den beständigen, zwar nichts weniger als angenehmen, aber äußerst bildenden und lehrreichen persönlichen Umgang mit Virchow außerordentlich viel nicht nur für meine speziell wissenschaftliche, sondern auch allgemein menschliche Ausbildung profitiert, so daß ich mich wirklich wesentlich verbessert und gar viele Unarten und Verrücktheiten abgelegt zu haben glaube. Trotz alledem halte ich aber ein weiteres Verbleiben in dieser Stellung für keineswegs irgendwie indiziert. Erstens will ich die pathologische Anatomie durchaus nicht zu meinem Spezialstudium machen, welches vielmehr für alle Zukunft "wissenschaftliche Zoologie", d. h. die vergleichende Anatomie und Histologie sein wird. Zweitens sehe ich aber auch, daß, nachdem ich mir jetzt das wesentlichste derselben angeeignet habe, ein fernerer Ausbau derselben bei weitem nicht die Zeit und Mühe lohnen würde, die eine solche Detaillierung erfordert. Im Grunde sind doch bei meinem Amte eine Menge höchst langweiliger Geschichten, z. B. die vielen Schreibereien mit Protokollen, Diarien, Sektionsgeschichten usw., welche die großen, nebenbei eingehenden Vorteile für Ausbildung und Bereicherung der Kenntnisse zur zum kleinen Teil aufwiegen. Endlich ist es auch hohe Zeit, daß ich behufs des Staatsexamens (im Winter 57/58) einmal die Medizin von ihrer andern, mehr praktischen Seite anfasse. Ich werde also die Stellung als Assistent von Virchow keinesfalls in Berlin fortführen. Übrigens wird die Sache auch schon ganz von selbst, und mit Virchows Wunsch, sich so gestalten, indem die Verhältnisse dort ganz andere, viel großartigere werden! Virchow bekommt dort eigentlich direkt keinen Assistenten, sondern einen eignen Prosektor, und dieser letztere sucht sich dann seinen Assistenten erst aus. Ich bin jetzt, wo ich die pathologische Anatomie allmählich satt zu bekommen anfange, und wo mir die anfangs so interessanten Sektionen durch ihre große Einförmigkeit und die stete Wiederholung im ganzen Jahr langweilig werden, ganz froh, daß ich sie nun einmal absolviert haben werde und freue mich herzlich, daß ich den schönen Winter einmal so recht con amore in meinem netten Studierstübchen arbeiten und die vielen theoretischen Lücken in meinen medizinischen Kenntnissen gründlich werden ausfüllen können. Was mir jetzt zunächst den längeren Aufenthalt in dem alten Würzburg, dem ich übrigens für seine dreijährige Lehrzeit äußerst dankbar bin, verleidet, ist die Reiseunruhe, der Wandertrieb, der wie bei den Zugvögeln ganz regelmäßig bei dem jährlichen Eintritt der periodischen Herbstferien sich geltend macht. Seitdem mir nun vollends Kölliker das köstliche Anerbieten gemacht hat, hat sich die vorher mühsam unterdrückte Reiselust mit aller Macht Bahn gebrochen, und mein ganzer und einziger Gedanke ist jetzt das Meer mit seinen zahlreichen und wunderbaren Bewohnern. Der pathologischen Anatomie, der ich drei Monate ausschließlichen Dienst gewidmet, ist jetzt der Rücken zugekehrt und die Sektionen usw. werden nur noch mit offiziellem Fleiß, aber ohne jedes Spezialinteresse ausgeführt. Es hat mich wirklich überrascht und erfreut zugleich, zu sehen, wie es nur eines so ganz geringen Anstoßes bedurfte, um mich ganz meinen alten lieben Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen wieder zuzuführen. Nun soll aber auch alle übrige Zeit vor der Reise noch darauf verwandt werden, mich möglichst gründlich dazu zu präparieren. Die genaue Entscheidung, wohin wir eigentlich gehen, wird erst in 14 Tagen erfolgen. An demselben Tage nämlich, als ich Euren letzten direkten, lieben Brief erhielt, in dem Du, liebster Vater, mir mit der liberalsten Güte das Reisegeld nicht nur für Triest, sondern auch für Nizza versprichst, an diesem selben Nachmittage teilte mir Kölliker mit, daß er wahrscheinlich nicht nach Wien und Triest, sondern nach Nizza gehen würde und forderte mich nun nur um so herzlicher und dringender auf, ihn nur um so mehr nach diesem noch weit interessanteren Ort zu begleiten. Ich war anfänglich sehr überrascht, da ich an Nizza eigentlich gar nicht ernstlich gedacht hatte, indem mir eine Reise dorthin als viel zu weitgreifend und großartig vorgekommen war. Je länger ich mir aber jetzt die Sache überlegte, desto reizender und vielversprechender erschien mir jetzt der Köllikersche Plan und Vorschlag, und als ich endlich noch einmal Vogts "Ozean und Mittelmeer" durchflog, war bald mein Plan sicher gefaßt. Das letztere Buch ist in der Tat sehr dazu geeignet, jedem Leser, auch wenn er nicht von vornherein so enthusiastisch für Natur schwärmt wie ich, die größte Lust nach diesem Paradiesgarten Europas und in specie diesem ausgesuchten Sammelplatz seiner auserwähltesten und mannigfaltigsten Seebestien zu erwecken. Um so mehr mußte es natürlich mit seinen reizenden zoologischen Naturschilderungen auf mich den größten Eindruck machen, und schon als ich voriges Jahr das Buch zum erstenmal in die Hände bekam und wiederholt nacheinander durchlas, erregte es in mir eine solche Sehnsucht nach diesem reizendsten, der prächtigsten Naturwunder vollsten Punkte der Mittelmeerküste, daß ich es als das größte Glück ansah, wenn es mir einmal später vergönnt sein sollte, dort einige Zeit zu beobachten und zu forschen. Eine nahe Verwirklichung dieses Wunsches ahnte ich natürlich nicht, und deshalb erschien mir auch jetzt, als nun wirklich die Erfüllung desselben gelingen zu wollen schien, diese Realisation so problematisch, daß mir in den ersten Tagen das Ganze als ein schöner Traum erschien. Erst ganz allmählich mußte ich meine Gedanken daran gewöhnen und meine Pläne für die Herbstferien, welche ich hier ganz ausharren zu müssen geglaubt hatte, danach umgestalten. Wenn die Dinge so zur Ausführung kommen, wie sie jetzt in unserm Plane liegen, so werde ich etwa am 8. oder 9. September von hier abreisen, über Frankfurt, Basel, Bern nach Vevey gehen und dort Kölliker, der schon in acht Tagen dorthin abreist, abholen. Von da wollen wir über den St. Bernhard oder Mont Cenis nach Turin und über den Col di Tenda nach Nizza gehen, wo wir über vier Wochen mikroskopieren werden. Von da gehen Kölliker und Heinrich Müller dann nach Paris, während ich meine Rückreise über Genua, Novara, Lago Maggiore, Splügen, Chur, Bodensee, Augsburg usw. einzurichten gedenke. Wie jammerschade, daß mich der Zeitmangel zwingt, die herrlichen Schweizer Gegenden nur so im Fluge zu durcheilen. Wie schön und bequem ließe sich mit dieser Route eine köstliche Schweizerreise verbinden! Doch das geht nun einmal leider nicht und ich muß mir dies Vergnügen für eine spätere Zeit aufsparen . . .

Kölliker und namentlich Heinrich Müller selbst, der schon mehrere Male in Nizza war, haben mir versichert, daß das Leben dort im Sommer relativ billig sei, 1 Fr. für das Zimmer, 2-3 Fr. für die Beköstigung täglich, also gegen 1 Taler, was im ganzen noch bedeutend billiger als in Helgoland sein würde. Erst im Winter (von November an), wo Nizza von einem Heere schwindsüchtiger Engländer überschwemmt wird, wird es sehr teuer. Die Hauptkosten würden daher auf die weite Hin- und Rückreise fallen. Doch Ihr wist, daß ich hierin so wenig üppig und verwöhnt bin und mich so einschränken kann, als man es von einem aller Mittel baren deutschen Studenten nur verlangen kann. Summa summarum würde die sechswöchentliche Reise danach höchstens auf gegen 150 Taler kommen. Doch kann ich Euch darüber noch Näheres schreiben. Sollte Euch diese Summe zu groß vorkommen, so bitte ich Euch zu bedenken, liebste Eltern, daß dies wohl auf mehrere Jahre die letzte Reise sein wird, die mir vergönnt ist, indem nächstes Jahr das Staatsexamen, 1858 das Militärjahr mich an Berlin fesseln wird. Auch verspreche ich Euch, durch möglichst sparsames und eingeschränktes Leben in Berlin, wo ich mit dem größten Vergnügen auf alle Vergnügungen verzichten werde, diese große Ausgabe möglichst wieder einzubringen. Endlich ist auch zu berücksichtigen, daß, ganz abgesehen von den ganz außerordentlichen Naturgenüssen und Freuden, dir mir die Reise bringen wird, der Nutzen für meine speziell wissenschaftliche und vergleichend-anatomische und histologische Ausbildung ganz ungeheuer sein wird und zu den relativ geringen angewandten Mitteln in gar keinem Verhältnis stehen wird. Daß es mir nun noch dazu vergönnt sein soll, von meinem weitberühmten und hochverehrten Lehrer Kölliker in dies zoologische Paradies eingeführt zu werden, ist ein Glück, das mir in dieser Weise nur dies eine Mal blühen kann und das mir ebenso ganz unerwartet als höchst erwünscht gekommen ist. Doch jetzt genug davon! Ich gerate sonst wieder in Gefahr, enthusiastisch zu schwärmen und von Dir, lieber Vater, eine Nase für meine Neigung zu Extremen zu bekommen. Was diese letzteren anbetrifft, so muß ich Deinen Bemerkungen darüber allerdings vollkommen recht geben. Nur glaube ich, daß die Sache, nämlich meine sehr geringe Neigung zur goldnen Mittelstraße, vorläufig, d. h. für meine Entwicklungsjahre (etwa vom 20.-25. Jahr), auch ihre guten Seiten hat. Wenigstens sehe ich, daß gar viele meiner Bekannten, die sich immer höchst sorgfältig dieser Mittelstraße befleißigen, auch sehr mittelmäßige Leute werden und nur Mittelmäßiges leisten. Andererseits glaube ich, daß ich die glückliche Richtung, in welche ich in letzter Zeit hineingekommen bin und auf der ich jetzt mit wissenschaftlichem Bewußtsein mich weiter auszubilden fortfahren kann, zum großen Teil auch dem gewiß einseitigen extremen Enthusiasmus, der Intensität verdanke, mit der ich Sachen, die mich wirklich interessieren, aufnehme und verfolge. Freilich ist auch viel Verfehltes bei diesen Einseitigkeiten und Virchow lächelt nicht mit Unrecht, wenn er mich den "enthusiastischen" statt den "nüchternen" Beobachter nennt. Übrigens bin ich gegen die Fehltritte, welche solche Schwankungen von Extrem zu Extrem gar zu leicht mit sich bringen, durch die feste Richtung, welche ich Eurer konsequenten, sittlich religiösen Erziehung, liebste Eltern, verdanke, mehr als viele andern geschützt . . .

Euer alter Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999