Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

89. Brief

Würzburg, 25. 7. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Auf die Tage der exzessiven Freude folgten, wie das von alters her bei mir gewöhnlich so geht, Tage des exzessiven Jammers. Diesmal war es nur nicht, wie oft früher, bloß selbstgeschaffen oder eingebildet, sondern sehr materiell begründet. Schon am Montag früh, als die Stettiner abgefahren waren, fühlte ich mich nicht recht wohl, hatte gar keine Arbeitslust (was ich mir durch das schöne Bummeln am Tag vorher erklären zu müssen glaubte!) und tat eigentlich den ganzen Tag, sehr matt und niedergeschlagen, nichts. In der Nacht bekam ich heftige Diarrhöe, welche sich am Dienstag früh, von den heftigsten Kolikschmerzen und fieberartigem Frösteln begleitet, so steigerte, daß ich schon um 9 Uhr von der Anatomie wieder nach Hause gehen mußte. Dabei wurde ich zugleich plötzlich so matt, daß ich weder stehen noch gehen konnte; mein Hausbursch, Dr. Rausch aus Speyer, ein sehr lieber, gemütlicher Kerl, brachte mich sogleich zu Bett und holte dann Beckmann und Dr. Grohé (meinen Amtsvorgänger). Diese drei hielten nun über mich Konsilium und waren bald über die Behandlungsweise einig. Sie pumpten mir Opium in großen Gaben ein (welches ich selbst schon in der Nacht genommen) und verordneten heiße Breiumschläge auf den ganzen Unterleib, so warm ich sie nur vertragen konnte. Die Kolikanfälle hatten inzwischen einen so hohen Grad erreicht, wie ich sie vorher nie kannte. Von 10 bis 11 1/2 Uhr wurde ich davon kontinuierlich und in solchem Grade gequält, daß ich mich wie ein Wurm hin und her wand und ohne eine Minute Ruhe in den heftigsten Konvulsionen lag. Dabei trotz doppelter Betten solcher Frost, daß ich mit allen Gliedern zitterte. Gegen Mittag ließ endlich der Kolikkrampf auf die fortgesetzte Anwendung der anfangs sehr schmerzhaften Kataplasma sehr nach, Auch die sehr heftigen Diarrhöen blieben Nachmittag auf die großen Opiumdosen aus. Um 1 Uhr nach dem Kolleg kam Virchow, welcher mir statt der reinen Opiumtinktur Doversche Pulver verschrieb und die heißen Umschläge fortsetzen ließ. Jedoch war mein Magen so reizbar, daß schon nach dem zweiten Pulver heftiges Brechen eintrat, weshalb ich diese aussetzte und zum reinen Opium zurückkehrte. Gegen Abend hatten die heftigen Anfälle ganz aufgehört, doch war ich so vollständig kaput und herunter, daß ich in einer Art lethargischer Erstarrung regungslos hindämmerte und in vollständiger Gleichgültigkeit gegen alle Dinge weder denken noch sonst etwas konnte. Ich weiß nur noch, daß ich noch vor Abend in sehr festen, tiefen Schlaf verfiel und am andern Morgen um 8 Uhr, in Schweiß durch und durch gebadet, zwar sehr schwach und matt, aber relativ frei und klar mich fühlend, aufwachte. Da der Nachmittag sehr warm und schön war, so durfte ich dann etwas aufstehen und umhergehen. Doch war ich noch so zerschlagen, daß ich kaum gehen und stehen, geschweige denn arbeiten konnte. Auch gestern (Donnerstag) war ich noch vollständig leistungsunfähig und suchte mich nur allmählich wieder etwas an die gewöhnliche Lebensweise zu gewöhnen. Erst heute bin ich ganz vollständig wieder auf dem Damm und so frisch, munter, leistungsfähig und willig, wie irgendeinen Tag vor der Affäre. Ich habe Euch die ganze Geschichte so ausführlich treu geschrieben, weil sie ein vortrefflicher Beitrag zum Theorie meines Organismus ist, der sowohl körperlicher- als geistigerseits immer die Extreme zu lieben scheint und von einem ins andere umschlägt. Ein gut Teil der enormen nervösen Reizbarkeit und Reflexerregbarkeit habe ich dabei wohl von meiner lieben Alten geerbt, die ja auch von ihren "Nerven!" oft so sehr gequält wird. Was eigentlich die nächste Ursache der ganzen Geschichte war, darüber sind die gelehrten Herren Doktoren auch jetzt noch nicht einig, wahrscheinlich ein derber Diätfehler (dessen ich mir gar nicht bewußt bin) oder eine tüchtige Erkältung (die ich mir höchstens am Sonntag bei der Wasserfahrt könnte zugezogen haben). Ihre einstimmige Diagnose lautet auf: rheumatische Kolik mit starkem Darmkatarrh. Übrigens waren meine Bekannten alle äußerst liebenswürdig und aufmerksam, namentlich hat Herr Grohé förmlich durch seine Güte mich beschämt. Auch meine Wirtin pflegte mich sehr sorglich, und über Virchows Teilnahme war ich ordentlich überrascht. Fast den ganzen Tag hatte ich Besuch und fast beständig war ein oder der andre als Wärter da! Ich hätte in der Tat nicht gedacht, daß die Leute so außerordentliche Teilnahme gegen mich zeigen würden! Nachträglich werde ich viel mit der ganzen Geschichte geneckt, da man den ganzen fieberhaften Anfall mit der Anwesenheit meiner beiden liebenswürdigen Kusinen in Kausalnexus bringt, wegen deren ich überhaupt, sowohl von meinen Bekannten, als auch Kölliker und Virchow, viel Neckereien auszustehen gehabt habe. Ich habe mich aber auch am Sonntag sehr über sie gefreut! . . .

Das Wichtigste, was mir jetzt, nach wiedererlangten Kräften, im Kopf herumgeht und meine Gedanken am meisten beschäftigt, ist die Reise nach Triest. Ich habe inzwischen mit Kölliker darüber gesprochen und die Sache scheint sich in der Tat vortrefflich zu machen. Kölliker beabsichtigt mit Heinrich Müller (von hier) Mitte September zur Naturforscherversammlung von Wien (die etwa vom 16.-22. September dauern wird) und von da auf mehrere Wochen nach Triest zu gehen, um dort Seetiere zu beobachten (ein ganz vorzüglicher Fundort, auf dem auch Johannes Müller viele seiner bedeutendsten Entdeckungen gemacht hat). Wie äußerst erwünscht in jeder Beziehung mir Köllikers mehrmals aufs freundlichste wiederholter Antrag, ihn dahin zu begleiten, kam und welche außerordentlichen Früchte mir diese herrliche Gelegenheit, wenn sie sich verwirklichen sollte, bringen wird, darüber brauche ich wohl gegen Euch kein Wort zu verlieren. Nur das füge ich hinzu, daß sich der Plan mit meinen hiesigen Verhältnissen trefflich wird vereinigen lassen. Virchow wird nämlich wahrscheinlich nur den Anfang der Ferien verreisen und Ende September, wo ich also grade in Triest sein würde, hier sein und mich dann nicht brauchen, da dann auch sein Nachfolger schon gekommen sein wird. Doch ist die ganze Geschichte noch zu sehr im weiten, um Euch jetzt schon ausführlicher darüber zu schreiben. Wenn im Herbst wieder die Cholera in Triest sein sollte, so wird Kölliker statt dessen nach Nizza gehen, wohin ich ihm sowohl aus pekuniären als anderen Rücksichten nicht würde folgen können. Sollte dagegen unser Triester Plan zustande kommen, so würde ich Euch, liebste Eltern, aufs inständigste bitten, mir die Erlaubnis und die Mittel zu dieser vierwöchentlichen Reise zu gewähren, aus Gründen, über die ich jetzt weiter kein Wort verlieren will, da sie Euch von selbst gewiß im höchsten Grade einleuchten werden . . .

In herzlicher Liebe Euer alter Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999