Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

88. Brief

Würzburg, 21. 7. 1856.

Liebe Eltern!

Die letzten Tage haben einmal plötzlich einige sehr angenehme Abwechslung in mein einförmiges Leben gebracht, weshalb ich sie Euch etwas näher schildern will. Das erste Glück, was mir passierte, war, daß ich an dem plexus chorioideus eines Geisteskranken plötzlich mit einem Male den Schlüssel zu den schwierigen Untersuchungen fand, welche ich seit längerer Zeit über die an diesen Organen vorkommenden pathologischen Bläschen (Zysten) angestellt habe. An diesem einen Präparat nun entdeckte ich ziemlich sicher, daß diese sonderbaren Dinger durch eine ganz eigentümliche Entwicklung von Bindegewebskörperchen entstehen. Alle vorher mir so rätselhaft gebliebenen Beobachtungen sind mir nun mit einemmal klar geworden und ich kann nötigenfalls sehr rasch daraus eine leidliche Dissertation zusammenschmieden. Da sah ich wieder einmal recht deutlich, wie wichtig Geduld, Ausdauer und Konsequenz zur Erreichung eines vorgesteckten Zieles sind. Ich machte diese entscheidenden Beobachtungen grade, als ich ganz entrüstet und verzweifelt über die lange vergeblich daran verschwendete Zeit und Mühe, sie gänzlich aufgeben wollte und statt dessen ein vergleichend-anatomisches Thema, zu dem ich natürlich viel mehr Neigung habe, aufnehmen wollte. Es ist dies die feinere mikroskopische Anatomie des Flußkrebses, insbesondere seines Nervensystems, welche ich übrigens trotzdem verfolgen werde, da sie sehr interessant ist. -

Am Sonnabend, 19. 7. abends, gaben wir, d. h. eine Auswahl von 120 Medizinern, Virchow das feierliche Abschiedsfest, ein grand Souper mit Bier im "Englischen Garten". Da es bald im Freien zu kühl wurde, mußten wir hineingehen und das feierliche Abendessen in den sehr hübsch dekorierten Sälen begehen. Als Virchow um 1/2 7 Uhr kam, wurde er mit feierlichem Tisch von den Musikern und Hurra von uns empfangen. Dann hielt Beckmann, als Präsident des Festkomitees, eine außerordentlich schöne, herzliche und tiefdurchdachte Rede, nach welcher er ihm unser Festgeschenk, einen sehr schönen, prachtvollen, silbernen Pokal, von Strube in Leipzig für 130 Taler gearbeitet, überreichte. Virchow war sehr überrascht, erfreut und, soviel es sein kalter Verstand zuläßt, selbst gerührt. Er antwortete und dankte in einer sehr langen und vortrefflichen Rede, in welcher er uns sein ganzes wissenschaftliches und damit zugleich auch politisches und religiöses Glaubensbekenntnis auseinandersetzte, sehr offen, wahr und liberal, und deshalb von uns mit Begeisterung aufgenommen. Virchow wies namentlich darauf hin, wie sein ganzes wissenschaftliches und menschliches Streben und Denken, Dichten und Trachten einzig und allein der rücksichtslosen, unbedeckten Wahrheit, ihrer vorurteilsfreien Erkenntnis und unveränderten Verbreitung gelte; wie er in dem konsequenten Streben nach diesem einen Ziel seine einzige Befriedigung finde, sich dadurch viel Feinde, aber auch tüchtige und edle Freunde und Schüler erwerbe, und wie er diesen Weg der rücksichtslosen, lautern Wahrheit stets verfolgen werde, auch in Zukunft, unbeirrt von allen Anfeindungen. Dann ermunterte er uns, immer in unserm Streben zu beharren, da die studierende Jugend, und insbesondere die medizinische, als diejenige, welche sich mit der Anthropologie, dem Studium des gesunden und kranken Menschen im weitesten Sinne, beschäftigte, das einzige kernhafte Element sei, aus dem sich immer wieder ein guter Stamm deutscher Männer voll Wahrheit und Kraft rekrutieren könne. Dazu ermahnte er uns, immer mehr alle Vorurteile abzulegen, mit denen wir leider von Kind auf an so vollgestopft werden, und die Dinge so einfach und natürlich anzusehen, wie sie sind. Er schloß mit der Schilderung seiner ganzen bisherigen Laufbahn und hob namentlich hervor, wieviel er Würzburg verdanke, weshalb ihm dies teuer war und immer lieb und wert sein werde. Beckmanns Rede gefiel mir eigentlich noch besser, da er nicht nur die Verstandesseite berücksichtigte und Virchows glänzende Verdienste um die Wissenschaft hervorhob, sondern auch dem Gemüt sein Recht ließ und mit Wärme den großen Einfluß dartat, den sich Virchow zugleich um unsere rein menschliche Ausbildung erworben. Was den Pokal selbst betrifft, so war er zwar nicht groß, aber sehr prachtvoll, kostbar gearbeitet. Auf dem Deckel stand eine Hygieia und die Worte: "Ihrem verehrten Lehrer die dankbaren Schüler", darunter ein Lorbeerkranz. Um den Bauch des Pokals wand sich ein Efeu- und Weingeranke, unter dem der von Virchow in seinen "Einheitsbestrebungen" als Motto vorangestellte Spruch Bacos stand: Homo naturae minister et interpres tantum facit et intelligit, quantum de naturae ordine re vel mente observaverit, nec amplius scit aut potest!, für Virchow rein empirisch- realistische Richtung ganz bezeichnend . . .

Von den geladenen Gästen, nämlich sämtlichen Professoren der Universität, waren nur etwa die Hälfte da, darunter jedoch einer, dessen Anwesenheit uns furchtbar ärgerte und wirklich ein Meisterstück von Frechheit und Unverschämtheit war. Es war dies ein Professor der Mathematik, Mayr, ursprünglich Jesuitenschüler und katholischer Pfaff, der nicht nur Virchow und Kölliker wegen Entweihung der Sonntagsfeier öfter denunziert hatte, sondern auch sonst in der schuftigsten Weise als geheimer und öffentlicher Feind derselben aufgetreten war. Dieser infame Kerl hatte nun die Frechheit, sich Virchow gerade gegenüber zu setzen, obgleich ich ihm zweimal zurief, daß dieser Platz reserviert sei. Das war denn doch zu toll, und ich organisierte eine förmliche Kabale gegen ihn, durch die ich ihn auch glücklich bald entfernte. Zuerst stellte ich mich mit mehreren Bekannten unmittelbar vor ihn hin, als er im Saal umherging, und brachte ein lautes Pereat auf die Jesuiten und Ultramontanen, die Männer der Lüge und des Scheins aus. Dies brachte ihn schon ganz in Wut und außer Fassung, noch mehr aber die Reden, welche ihm zwei Bekannte, die sich neben ihn setzen mußten, über Virchows Verdienste um Freiheit und Liberalismus des Denkens und Glaubens usw. halten mußten. Er drückte sich schleunigst infolgedessen, worauf ich ihm aus dem Torweg noch nachrief, daß es allerdings sehr passend wäre, wenn die ultramontanen Spione sich beizeiten drückten! - So war unser Ärger in Freude verwandelt. Auch die andern unpassenden Elemente entfernten sich bald und wir waren höchst fidel unter uns, wobei das abwechselnde Spiel der Musik und der Gesang von Studentenliedern uns erheiterte . . .

Am Samstag lud mich Kölliker freundlichst ein, in den Herbstferien ihn nach Triest zu begleiten, um dort Seetiere zu beobachten. Das ist in der Tat ein Gedanke, der alle andern Rücksichten in den Hintergrund drängen kann, und der bei mir gleich so lebhaft gezündet hat, daß alle guten Vorsätze, in den Ferien hier pathologische Anatomie zu treiben usw., mit eins in den Wind geblasen sind. Ich würde das sehr freundlichst und außerst wertvolle Anerbieten um so eher annehmen können, als Virchow doch nun wahrscheinlich den größten Teil der Ferien hier bleiben wird! Doch will ich nun erst meine furchtbare erste Aufregung sich etwas setzen lassen, ehe ich mit Kölliker und Virchow selbst weiter darüber spreche. Vorläufig bemerke ich Euch nur, daß das auch einmal wieder eine Gelegenheit ist, die sich nur einmal im Leben darbietet, und zwar eine für meine zootomisch-histologische Entwicklung äußerst wichtige! . .

Euer alter treuer Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999