Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

80. Brief

Würzburg, 17. 2. 1856.

Liebste Eltern!

Vor allem den herzlichsten, innigsten Dank für Eure unschätzbare elterliche Liebe, welche ihr mir an meinem Geburtstage wieder durch so viele Zeichen und Worte der Liebe in so herzlicher und treuer Weise zu erkennen gegeben habt. Es ist mein sehnlichster Wunsch und wurde auch gestern von mir wieder zum festesten Vorsatz bekräftigt, mich dieser Eurer köstlichen Elternliebe, welche mir doch immer das werteste und zu jeder Zeit, unter allen Verhältnissen, das trostreichste und erfreuendste Gut ist, immer werter und würdiger zu machen und Euch, soviel in meinen Kräften steht, Eure Güte und Treue durch ein kräftiges, beharrliches Streben nach dem Wahren und Guten möglichst dankbar zu vergelten . . .

Wie unendlichen Dank bin ich Dir jetzt schuldig, mein gütiger, liebevoller Vater, daß Du mich wider meinen Willen gezwungen hast, das Studium der Medizin ex fundamento und bis zu Ende fortzutreiben. Welche außerordentlichen Vorteile habe ich dadurch errungen. Ich glaube, es gibt in der Tat keine bessere und gründlichere Schule, um alle die zahllosen angeerbten und anerzogenen Vorurteile abzuschaffen und eine wahre und nackte Anschauung der Dinge, wie sie sich nun einmal im realen Leben gestalten, gewinnen zu lernen, als das Studium der Medizin, die Anthropologie im weitesten Sinne des Worts, in leiblicher und geistiger Beziehung ist. Wie hat mir in dieser Beziehung die poliklinische Praxis, so unbedeutend sie in wissenschaftlicher Beziehung an sich war, die Augen geöffnet! Und welchen ruhigen Blick gewährt mir diese Erkenntnis jetzt für die Zukunft! Wenngleich das naturwissenschaftliche, theoretische Studium des normalen Lebens, der pflanzlichen und tierischen Wunderwelt, immer meine Lieblingsbeschäftigung und das Hauptziel meines Studiums sein wird, so könnte ich jetzt mich doch ohne viele Umstände ganz gut dareinfinden, auch als praktischer Arzt zu fungieren, was ich noch vor einem Jahre für rein unmöglich gehalten hätte. Und nach dem Lebensplan, wie er jetzt vor mir liegt, werde ich mich wohl bald genug dareinfinden müssen. Ich möchte fast sagen, daß ich durch das Studium der Krankheit erst recht gesund geworden wäre. Wenigstens ist die Verfassung, in der ich mich jetzt, und zwar konstant, befinde, ein entschiedener Zustand von (freilich relativer!) Gesundheit, gegenüber jenen hysterisch- sentimentalen Simpeleien, durch die ich in den sieben früheren Semestern mir und andern das Leben verbitterte. Ich glaube, dieser glückliche Fortschritt zeigt sich schon allein darin, daß ich seit Antritt meiner herrlichen Alpenreise auch nicht einmal wieder einen sogenannten "moralischen Katzenjammer" gehabt habe, welcher vorher, wie Ihr wißt, zu den konstanten und notwendigen Ereignissen fast jeder Woche bei mir gehörte. Und frage ich, was denn nun eigentlich diese glückliche Sinnesänderung hervorgerufen, so komme ich immer wieder auf die Medizin zurück, in deren Studium mich dieses Jahr bis über die Ohren hineingestürzt hat. Vor allem ist es aber wieder der geniale Virchow, dem ich den größten Dank schuldig bin; er hat durch seine, in der Tat einzig wahre und richtige Methode, mir einen Geschmack an der Medizin, d. h. eben am Studium des kranken Menschen, abgewonnen, die ohne diese seine naturwissenschaftliche Behandlung in Wahrheit derselbe alte Rumpelkasten von unbegründeten Theorien und rohem Empirismus geblieben wäre, der sie so lange bis jetzt war. Ich kann Euch gar nicht sagen, welchen außerordentlichen Aufschwung, welchen hohen Grad nicht nur speziell medizinischer Bildung ich Virchow verdanke. Wäret Ihr jetzt nicht in Berlin, so würde ich mich keinen Augenblick bedenken, noch ein Jahr hierzubleiben, indem nämlich jetzt grad die Assistentenstelle bei Virchow frei wird. Ich würde sie gewiß ohne Mühe erhalten und könnte dann ganz ex fufndamento mich mit allen Einzelheiten der speziellen pathologischen Anatomie vertraut machen, über die ich so doch nur einen Überblick gewonnen, und zu der ich den Eingang gefunden habe. Doch wer weiß, wozu es gut ist, daß ich mich jetzt einmal wieder zu andern Gegenständen hinwende und in einer andern Sphäre bewegen lerne . . .

20. 2. 1856.

. . . In meiner poliklinischen Praxis habe ich jetzt die remarkabelste alte alte Hexe bekommen, die man sich denken kann. Ich dachte wirklich, ich fände die "Alte mit der Spindel" aus dem Märchen "Dornröschen". Über verschiedene Leitern und durch einige alte Gänge mußte ich auf einer alten verfallenen, fast im Zusammensturz begriffenen Treppe unter das niedere Dach eines alten turmartigen Wachthauses hinaufklettern, wo ich in einem ganz elenden, dicht von Spinnweben umschleierten Kämmerchen, das wohl jahrelang nicht gereinigt sein mochte, dessen Fensterluken mit Papier verklebt waren, vor einem Spinnrade ein uraltes, eisgraues Weib sitzen sah, mit quittengelbem Gesicht und bis zum Skelett ausgedörrt. Obwohl schon ziemlich an dergleichen Schauerszenen gewöhnt, fuhr mir doch unwillkürlich eine gelinde Gänsehaut über den Leib, und es dauerte einige Minuten, ehe ich die übliche Doktorkonversation mit ihr führen konnte, wodurch ich erfuhr, daß sie schon sieben Jahre, von Gicht und Alter lahm, so hier sitze und ganz allein sei. Nur mittag und abends bringe ihr eine Nichte das Essen herauf! -

Auch sonst bin ich jetzt mit alten Weibern gesegnet. Eines schönes Tages bekam ich zwei Stück auf einmal, eine immer häßlicher als die andere. Doch hatte die eine von ihnen eine recht hübsche Pflegetochter.

Vorige Woche bekam ich im Mainviertel (drüben über dem Main, dem wahren Sitz des Elends und Jammers) in einem Loche ein Nest von einem halben Dutzend Pflegekindern, die elendesten Würmer, die man sich denken kann, meist rachitisch oder skrofulös, mit Augenleiden usw. Im ganzen geht mir's doch mit der Poliklinik sonderbar. Bis jetzt ist mir noch nicht ein einziger Patient (trotzdem ich ein paar recht schwere Fälle gehabt) gestorben, während einem Bekannten unter 13 Patienten 10 gestorben sind! Meine Kommilitonen beneiden mich darum, während es mir sehr leid tut, da ich auf diese Weise zu gar keiner Sektion komme, welche mir bei allen Kranken das Wichtigste, ja das einzig Interessante ist. Um mich einigermaßen für dies Pech, das die andern Glück nennen, zu entschädigen, hat mich Professor Rinecker am Sonntag ganz allein eine Sektion von A bis Z aus seiner Privatpraxis (ein fünfjähriges Mädchen mit Meningitis tuberculosa , sehr schöner und ausgeprägter Fall!) machen lassen, bei welcher ich denn das bei Virchow Erlernte so trefflich verwertete, daß mich der Herr Professor wiederholt sehr schmeichelhaft, sogar gegen Virchow, lobte. Ich bin aber in der Tat jetzt auf nichts so wie auf Sektionen versessen. Ich laufe gleich ein paar Stunden um eine einzige, just so wie früher um eine seltene Pflanze! - Tempora mutantur et nos mutamur in illis! - Die Aussicht, ganz selbstständig recht viel Sektionen zu machen, ist auch für ich das einzig Anziehende, was mich zur ärztlichen Praxis bringen könnte. Auch eine Prosektur denke ich mir jetzt ganz herrlich, z. B. die an der Charité, von der heute das Gerücht (?) ging, daß sie Virchow mit einer neu zu errichtenden Professur für pathologische Anatomie übertragen werden sollte. Das wäre ganz herrlich . . .

Einen Hauptspaß, der mir jetzt passiert ist, muß ich Euch aber doch noch mitteilen, obwohl er noch nicht zu Ende ist. -

Anfangs dieses Semesters machte mir Virchow den ehrenvollen Antrag, auserwählte Vorträge aus seinem demonstrativen Kursus (der pathologischen Anatomie und Histologie), besonders über seltene Fälle und weniger bekannte Gegenstände, auszuarbeiten und nach Wien an die "Wiener Medizinische Wochenschrift" zu schicken, deren Redakteur Dr. Wittelshoefer ihn um öftere Einsendungen ersucht habe. Obgleich ich verschiedene Einwendungen (über Nichtfähigkeit, Zeitmangel usw.) dagegen machte und dadurch ihm auszuweichen suchte, drang er doch so in mich, daß ich mich ernstlich entschloß, die Sache zu versuchen. Es kamen auch bald zwei sehr merkwürdige Fälle von Typhus (Nervenfieber), welche sich vortrefflich dazu eigneten und bei deren Gelegenheit Virchow einen klassischen Vortrag über "die Beziehungen des Typhus zur Tuberkulose" hielt. Diesen arbeitete ich aus und schickte ihn nach Wien. Er erschien in den beiden ersten Nummern dieses Jahrgangs (1856) der "Wiener Medizinischen Wochenschrift". Darauf erscheint - doch ich will hierüber meinen Redakteur selber reden lassen, der in einer Anmerkung zu dem einige Wochen später in Nr. 7 erschienenen zweiten Aufsatz "über Fibroid des Uterus" folgende Anmerkung macht: - "Wir müssen wiederholt bemerken, daß die unter obiger Aufschrift 'Aus dem pathologisch-anatomischen Kurse des Professor Virchow in Würzburg' erscheinenden Artikel mit Zustimmung und unter Überwachung des Herrn Professor Virchow gearbeitet werden, und daß sie teils selten interessante Fälle, teils solche Kapitel enthalten, die der berühmte Professor nicht veröffentlichte. - Wir haben eine gleiche Erklärung bereits vor vierzehn Tagen in der Voraussicht abgegeben, daß die niedrige Gehässigkeit der Tschechen-Clique der sogenannten "Wiener Schule" mit ihrem Schweifanhange gegen uns mit der bekannten ordinären Verdächtigung hervortreten werden; - unsere Erklärung wurde nicht beachtet. Herr Heschl in Krakau, als Famulus der österreichischen Tschechen-Clique, übernahm es, in einem mit ungewohntem Zynismus ausgestatteten Schreiben an Herrn Haeckel, der in unseren Aufsätzen ausgesprochenen Ansicht Virchows in der "Zeitschrift für praktische Heilkunde" entgegen zu treten. Über den fachlichen Inhalt jenes Artikels abzuurteilen kömmt uns nicht zu, der Angegriffene selbst wird wissen, sein Recht zu wahren. Die perfide Verdächtigung aber, die dabei uns treffen sollte, müssen wir selbst beleuchten usw. usw." - Dies ist der kurze Sachverhalt! Virchow hat nun inzwischen eine Entgegnung gegen meine Angreifer geschrieben, welche wahrscheinlich in der nächsten Nummer zugleich mit meinem dritten Aufsatz über "Ovarien-Zystoide" erscheinen wird. Außerdem hat er es mir überlassen, mich noch speziell selbst zu verteidigen, wozu ich natürlich nicht die mindeste Lust habe, da ich doch noch ein gar zu junger Rekrut bin! Wie süß aber, für Virchow angegriffen zu werden!! . . .

Nun also seid zum letztenmal von Würzburg aus begrüßt, liebste Eltern! Wie ungeheuer freue ich mich, nun schon so bald Euch wiederzusehen. Ich kann wirklich die Zeit kaum erwarten! Noch nie meine ich, mich so ungeheuer auf die Heimreise gefreut zu haben. -

Für die schönen Geburtstagsgeschenke habt nochmals den allerherzlichsten Dank. Ganz besonders habt Ihr mich durch Virchows gesammelte Abhandlungen beglückt, die ich jetzt mit wahrem Entzücken lese. So ist z. B. gleich die erste, "Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin", ganz köstlich, und ich habe mich gar nicht satt daran gelesen . . .

Nun also das letzte, frohe Ade! Heute über drei Wochen bin ich bei Euch! Hurra!!! Euer glücklicher, alter, 22jähriger Junge

Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999