Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

79. Brief

Würzburg, 2. 2. 1856.

Liebe Eltern!

. . . Die Karnevalsfreuden, die in der hiesigen Bevölkerung immer eine so lebhafte und warme Aufnahme finden und mit so viel Glanz und Üppigkeit ausgeführt werden, sind an mir spurlos vorübergegangen. Wenn ich sonst Lust gehabt hätte, hätte ich womöglich jeden Tag auf einen Ball gehen können; allein die beiden ersten Harmoniebälle, die ich nach Neujahr mitmachte, haben mir allen Appetit zu weiteren Tanzvergnügungen gründlich benommen. Freilich mag das auch zum Teil an meiner Auffassungsweise der hiesigen Bälle liegen, welche ich wesentlich als gymnastische Übungen auffasse, daher ich denn auch jedem Tanz, der auf der Tanzkarte steht, pflichteifrigst mittanze, ohne doch während der ganzen Zeit meinem Körper irgendeine Erquckung zu gönnen, wobei man ganz vortrefflich mitten im Überfluß fasten lernt. Die Würzburger Damen sind aber in der Tat auch derart beschaffen, daß man nicht wohl anders die Sache ansehen kann. Ich wenigstens habe mich vergeblich bemüht, mit irgendeiner ein vernünftiges Gespräch anzufangen (was ich mir also auch ganz auf Berlin versparen muß!), und ihnen Schmeicheleien über ihre Figuren, Haare, Augen, Liebenswürdigkeit usw. zu sagen (womit sich die andern Tänzer unterhalten), dazu verspüre ich nicht die geringste Lust, sehe auch gar keine Indikation dafür. Also Laß ich sie laufen! . . .

Im Spital hat es jetzt weniger interessante Fälle gegen als vor Weihnachten, wo es wirklich davon wimmelte; jedoch dafür kommen jetzt recht merkwürdige Sektionen vor, auf die ich jetzt ganz erpicht bin. Die Demonstrationen und Vorträge Virchows, die die Sektionen begleiten und ihnen folgen, sind ganz köstlich, und man hört sonst so etwas nirgendwo. Wenn ich nicht so warme Liebe zur Zoologie und Botanik hätte, denen ich stets treu bleibe, so könnte ich vor allem die pathologische Anatomie, besonders aber die Histologie erwählen . . .

Euer alter Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999