Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

81. Brief

Würzburg, Mittwoch, 23. 4. 1856.

Meine lieben Eltern!

" Alea jacta est - der Rubikon ist überschritten - ich habe soeben unterschrieben. - . . . " Mit diesen Worten, mit denen mein verehrter Lehrer und jetziger Prinzipal Virchow mich auf dem Anhaltischen Bahnhof überraschte, um mir am Samstag seine definitive Annahme des Berliner Rufs anzuzeigen; mit denselben Worten stelle ich mich jetzt als neugebackenen Assistenten desselben vor, als "Königlich bayrischer Assistent an der pathologisch-anatomischen Anstalt zu Würzburg", mit 150 Gulden jährlichem Gehalt, welches jedoch jedenfalls nur halbjährlich ausfallen wird! So hätte sich mir also eine Reihe hoffnungsvoller neuer Aussichten eröffnet. Virchow geht sicher im Herbst nach Berlin, und ich bin jetzt hier für diesen Sommer noch sein Assistent geworden, um es dann hoffentlich dort noch einige Zeit zu bleiben. Nun können wir uns also recht für den Winter freuen! Das vielgefürchtete Examen ging heute früh sehr glücklich vor sich. Der öffentliche Termin dazu war eigentlich zu morgen (Donnerstag) anberaumt. Allein da Virchow mir gestern gesagt hatte, daß es bei Anwesenheit einer Leiche auch schon heute vor sich gehen könne, so war ich heute früh, als ich um 9 Uhr die Ankunft eines Kadavers auf der Anatomie erfuhr, nicht faul und lief zugleich zu Virchow. Dort traf ich zufällig einen Rivalen, der seine Konkurrenz heute morgen aufgegeben hatte und grade Virchow seinen Rücktritt anzeigte. Ich war also von einer großen Last befreit! Von Virchow ging ich sogleich zum Dekan, Professor Narr, welchen ich eine Stunde lang vergeblich überall suchte. Endlich um 10 Uhr kam er nach Haus und machte sogleich einen öffentlichen Anschlag im Juliushospital, wonach die Prüfung um 1/2 11 Uhr stattfinden sollte (was den großen Vorteil hatte, daß nur sehr wenige Studenten den Anschlag lesen und mich mit ihrer Gegenwart bei der Prüfung beehren konnten). Um 11 Uhr fand dieselbe also in Gegenwart der Professoren Virchow, Kölliker und Narr (letzterer als Dekan) statt, und um 1 Uhr war ich Assistent! Die Sektion war interessant, aber nicht schwierig (hämorrhagische Pleuritis der linken Seite, chronische Bronchitis der rechten Seite, vollständige Verwachsung des Herzbeutels mit den Lungen, dem Zwerchfell und dem Herzen, chronische Endokarditis). Dr. Grohé, der bisherige Assistent, schrieb das Protokoll, das ich diktierte. Nachdem ich die Sektion gemacht, ließ mich Virchow von drei gegebenen Thematen eines durch das Los ziehen, um ex tempore darüber einen Vortrag zu halten. Das Glück wies mir zu: "Histologie des Tuberkels und nahe verwandter Gebilde". Da ich mich ganz speziell damit beschäftigt (bei Lieferung des Aufsatzes in die "Wiener Medizinische Wochenschrift"), so war natürlich die ganze Geschichte eine Spielerei. Ich benutzte nicht einmal die angebotene Bedenkzeit, sondern fing gleich ganz ex tempore den Vortrag an, der kaum der Rede wert war. Morgen werde ich nun meine Funktion antreten und das pathologisch-anatomische Museum übernehmen. Hurra!!! - . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999