Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

78. Brief

Würzburg, 1. 2. 1856.

Meine liebe Tante Berta!

Wenn ich so lange, lange nicht an Dich geschrieben habe, so bist Du doch gewiß davon überzeugt, daß ich um so mehr im Geiste bei Dir gewesen und bei allen Freuden und Leiden, die mich in dem verflossenen Jahre, in dem wir voneinander entfernt sind, betroffen haben, an Dich gedacht habe. Bei den köstlichen Genüssen, die mir die herrliche Alpenreise bereitete, auf der ich an Körper und Geist so stark und gesund wurde, habe ich auch Deiner so unendlich oft gedacht und gewünscht, Dir diese edelsten aller Genüsse mitteilen zu können. Nicht minder standest Du aber auch im Geiste vor mir, stärktest und tröstetest mich mit Deinem gewohnten treuen und freundlichen Zuspruch, als ich hier in Würzburg mich allmählich immer mehr und mehr in die Studien- und Berufsverhältnisse schicken mußte, die mir anfangs so sehr zuwider waren und deren Angewöhnung mir so viele und schwere Überwindung kostete. Gott sei Dank ist diese Zeit nun vorüber, und es ist mir durch die Selbstüberwindung, die ich dabei habe lernen müssen, eine ganz andere und neue, eine wahrere und darum bessere Weltanschauung aufgegangen, als ich vorher besaß. Aber wie es ja mit jedem Fortschritt in unserm menschlichen, irdischen Leben geht, bei jedem Schritt vorwärts, bei jeder Stufe, die wir nach vieler Mühe und Anstrengung emporgeklommen sind, öffnet sich uns schon wieder ein neuer Kampfplatz, und ein neues Ziel winkt in der Ferne, das neuen Kampf und neue Kraftanstrengung fordert. So werde auch ich jetzt mehr und mehr davon überzeugt, daß eigentlich diese ganze kurze Lebenspanne nur zum beständigen Kampf und Ringen bestimmt ist, und daß es vergeblich und unrecht sein würde, hier nach Frieden und Ruhe zu suchen. Mit jeder gewonnenen Überwindung wird aber der Kampf auch schwerer; denn nur so kann die Kraft gestählt und fortdauernd gemehrt werden. So sehe ich auch jetzt, nachdem ich endlich nach langem, vieljährigem Tappen und Umherirren im Dunkeln zu einer neuen Stufe des Lichts und der Erkenntnis emporgeklommen bin, daß schon wieder eine Menge neuer und vorher ungekannter Irrungen und Verführungen des in die Welt hinaustretenden Jünglings harren und Vorsicht und Überlegung fordern. Insbesondere ist es jetzt ein Punkt, der mir jetzt viel zu schaffen macht, und je weiter ich nach Licht und Wahrheit darin suche, mir nur um so dunkler und verwirrender erscheint. Es ist dies das Verhältnis unserer modernen Naturwissenschaft, deren eifrigster Jünger mich zu nennen doch mein größter Stolz ist, zum Christentum einerseits und zum Materialismus andererseits. Je weiter die Forschung vordringt, je klarer und einfacher sich die allgemeinen Naturgesetze gestalten, und immer mehr auf rein mechanische Verhältnisse und endlich zuletzt auf mathematische Formeln reduzieren lassen (was doch als das höchste Ziel auch in den organischen Naturwissenschaften angesehen wird), um so näher liegt der Gedanke und um so größer wird die Versuchung, auch den letzten Grund aller Dinge in einem solchen mechanischen, blinden, unbewußten, ausnahmslosen Naturgesetz zu suchen und alle die Folgerungen daraus zu ziehen, welche der moderne Materialismus daraus abgeleitet hat. Der konsequente und rationelle, Schritt für Schritt auf mathematisch gesicherter Bahn vorwärts schreitende Naturforscher gerät da in der Tat zuletzt in eine Enge und Klemme, aus der er, folgt er allein dem Zeugnis der Vernunft und seinen fünf Sinnen, vergeblich nach einem Ausweg sucht, und von der der Laie, dem das Detail und damit auch der Geist der Naturwissenschaft fremd ist, in der Tat keine Ahnung hat. Und sehen wir nicht täglich, daß die größten Heroen und Koryphäen unserer heutigen Naturwissenschaft in diesem Labyrinth sich verirren, in desem Kampf unterliegen und schließlich zu dem reinsten, offensten Materialismus als einzigem Rettungsmittel ihre Zuflucht nehmen? Der Vogt-Wagnersche Streit, über den im Laufe von kaum einem Jahre schon fast eine Bibliothek zusammengeschrieben ist, gibt es redendes Zeugnis davon! Und doch wie leer, wie oberflächlich, wie nüchtern ist diese auf die Spitze getriebene rationelle Anschauung, und wie unbefriedigt und trostlos läßt er die nach Wahrheit und Klarheit ringende Seele. Die Leute kommen mit allen ihrem Scharfsinn und ihrer Spitzfindigkeit doch immer zuletzt auf einen Punkt an, auf dem sie vergeblich nach einem Ausweg suchen und sich gestehen müssen, daß sie mit ihrem beschränkten Menschenverstand da nicht weiter können. Es ist dies der Punkt, wo das Wissen aufhört und wo der Glaube, den sie so gerne ganz leugnen und fortschaffen möchten, anfängt. Und doch ist dieser Glaube, dem im Christentum seinen vollendesten und wahrsten Ausdruck gefunden hat, der einzige Rettungsanker für die vergebens nach anderem Trost und anderer Befriediung sich umsehende Seele. Auch ich kann nur in diesem Christenglauben, der so vielen und so bedeutenden Geistern nur als eine lächerliche Torheit gilt, Trost und Frieden finden, indem ich dieses Glaubensleben als eine Sphäre zulasse, die von dem auf das Zeugnis unserer fünf Sinne gegründeten Wissens- und Verstandeslebens ganz verschieden, aber neben ihm nicht nur möglich, sondern auch nothwendig, ebenso berechtigt und noch unendlich wichtiger ist . . .

Dein treuer Neffe Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999