Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

77. Brief

Würzburg, 13. 1. 1856.

Liebe Eltern!

Das neue Jahr hat bei mir so angefangen, wie das alte geschlossen hat, d. h. ich schaue jetzt mit frohem Mut und hoffnungsvoller Zuversicht in mein künftiges Leben hinaus, obgleich ich grade jetzt eigentlich weniger als je einen bestimmten Plan für dasselbe vor mir sehe. Ich denke, der liebe Gott wird schon irgendwo im weiten Reiche der Naturwissenschaften eine Subalternenstelle für mich offen behalten. "Es muß auch solche Käuze geben!" - Einen Hauptvorteil habe ich in dieser Hinsicht dadurch in diesem Winter errungen, daß ich einsehen gelernt habe, daß es mit der Medizin nicht ganz so schlimm ist, wie ich dachte, obwohl sie als Wissenschaft wohl jämmerlich genug ist. Aber ich bin doch wenigstens bis zu der Erkenntnis vorgeschritten, daß ich allenfalls unter den schlimmsten Umständen mich doch einmal als praktischer Arzt aufspielen könnte. Die Hauptsache dabei ist jedenfalls das Selbstvertrauen, wie schon Mephisto sehr richtig bemerkt: "Denn wenn ihr euch nur selbst vertraut, vertraun euch auch die andern Seelen" . . .

Ich habe jetzt bei einem Assistenten des Spitals ( Dr. Koch) einen Privatkursus gehabt, in welchem ich einen recht tiefen Blick in die allerschwärzesten Schattenseiten der ärztlichen Praxis getan und mich an die allerscheußlichsten Dinge habe gewöhnen lernen, von denen ich noch vor einem halben Jahre geglaubt, daß ich sie unmöglich nur mitansehen könnte. Anfangs ging es auch gar hart; jetzt treibe ich die Geschichten aber schon beinahe mit demselben ruhigen Blut wie alles andere. Die rein wissenschaftliche Anschauung der Dinge erleichtert einem diese bösen Stellen ungemein und setzt einen über die härtesten Schwierigkeiten hinweg. Nur vor der Chirurgie habe ich noch einen höllischen Respekt, was aber sich auch wohl zum Teil geben wird, wenn ich erst mehr hineingekommen. Bis jetzt habe ich sie noch gar nicht getrieben, und sie mir als das einzige noch übrige bis Berlin ausgespart, wo ich mich durch Langenbecks glänzendes Operationstalent auch an sie einigermaßen zu gewöhnen hoffe. Der Vorteil, den eine solche systematische Gewöhnung an widerliche und abschreckende Sachen und Szenen, vor denen das nichtmedizinische Menschenherz zurückschaudert, für die Stärkung des Charakters und Willens mit sich bringt, ist nicht genug zu schätzen, und ich erinnere mich, in "Wahrheit und Dichtung" gelesen zu haben, daß Goethe in Straßburg ebenfalls Kliniken besuchte, bloß um sich an den deprimierenden Eindruck solcher Schreckensszenen zu gewöhnen und dadurch sein übermäßig reizbares Gemüt abzuhärten, was ihm auch vortrefflich gelang. Ebenso geht es auch mir. Dabei verdanke ich aber die wahrhaft wissenschaftliche Anschauung der Dinge, die mich allein über diese Schwierigkeiten hinweghebt, dem in dieser Beziehung unberechenbar wohltätigen Einflusse Virchows.

Einen sehr fidelen Abend verlebte ich heute vor acht Tagen (Sonntag) mit Beckmann und Strube, wo wir uns trotz aller Differenz der Ansichten doch einmal sehr gründlich und gemütlich aussprachen. Zuletzt kam das Gespräch natürlich auch auf unsere verschiedene Zukunft, die wir uns mit allen bunten Farben jugendlicher Phantasie ausmalten, und wobei wir so lustig wurden, daß Herrn Bundschuhs vortrefflicher Leistenwein uns zu folgender possierlicher Wette verführte: "Am Silvesterabend des Jahres 1866, also just in zehn Jahren, wollten wir drei wieder zusammenkommen, und jeder von dem Kleeblatt, der dann inzwischen eine Ehefrau heimgeführt hätte, sollte jedem der beiden andern zehn Flaschen besten Würzburger Bockbeutels ponieren!" - Das beste dabei war, daß jeder von uns nachher zugestand, im Grunde sei er doch halb und halb überzeugt, daß ihm für seine Person die ihm gesetzte Wette etwas zweifelhaft wäre und er nicht ganz dafür einstehn könne, daß nicht inzwischen der stolze Jünglingsnacken unter das eheliche Joch sich beuge. Ich für meine Person glaubte am sichersten zu sein, da ich hoffte, heute über zehn Jahren eher in dem Palmenschatten am Strande einer Südseeinsel, oder in einem Urwalde Madagaskars, als in der Straße einer ehrlichen, deutschen Universitätsstadt zu lustwandeln . . .

Am 2. Januar wurde die Stiftungsfeier der Universität abgehalten, wobei der neue Rektor, Hofrat Scanzoni, seine Antrittsrede hielt, die außerordentliche Überraschung und Beifall durch ihren rücksichtslosen Freimut hervorgerufen hat. Er behandelte nämlich das Thema über "Das freie Berufungsrecht der Universitäten". Zuerst wies er in einer historischen Einleitung nach, daß die Universitäten von Anfang an nur selbstständig zusammengetreten, vom Staate weder begründete und geordnete, noch bevormundete oder gar beherrschte Gelehrtenschulen gewesen seien. Dann führte er weiter aus, wie eines ihrer ersten und teuersten Rechte sei, ihre Lehrer selbst nach freiem Gutdünken zu berufen und daß ohne dies Recht die Universitäten bald zu knechtischen Erziehungs- und Strafanstalten werden würden, da es vielen Regierungen mehr angelegen sei, das Volk zu verdummen und auf möglichst niederer Bildungsstufe zu erhalten, als es durch Verbreitung der Wissenschaften zu fördern. Daran schloß sich eine ebenso kräftige als energische Polemik gegen das bayrische Ministerium, welches jetzt grade angestrengte Versuche macht, dieses freie Berufungsrecht der Professoren zu vernichten . . .

Das es dem armen Adolf Schubert wieder schlechter geht, tut mir recht sehr leid. Ich wollte ihm zu Weihnachten eigentlich noch ein kleines Büchlein schicken, das für eine Erstarkung und Kräftigung seiner ganzen hypochondrischen und nervösen Geistesrichtung wie ich glaube, den besten Erfolg haben wird. Wenigstens verdanke ich selbst diesem kleinen Buche einen großen Teil des Lebensmutes und der Willensenergie, die ich mir jetzt zu erwerben immer mehr im Begriff bin. Es ist dies die Schrift von Dr. Ernst von Feuchtersleben: "Zur Diätetik der Seele." Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr das ganz vortreffliche Büchlein, das mir zur Heilung von Adolfs Zuständen wie geschaffen erscheint, ankaufen und Adolf in meinem Namen geben würdet, mit der dringenden Bitte, es wiederholt und gründlich durchzulesen . . .

In alter treuer Liebe Euer

Ernst




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999