Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

76. Brief

Würzburg, Mittwoch, 26. 12. 1855.

Liebste Eltern!

soeben, am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages, erhielt ich Eure liebevolle Weihnachtssendung, die ich sehnlichst erwartet habe und heut nachmittag fast schon aufgegeben hatte. Nun aber war auch die Freude darüber um so größer! Habt tausend, tausend Dank für alle Eure Güte und Liebe. Ihr habt mich diesmal wieder so reichlich bedacht, daß ich Euch gar nicht genug dafür danken kann. Ganz besonders hat mich Großpapas Bild gefreut, das ja eine ganz prächtige Kopie ist. Der Zug um den Mund scheint mir selbst freundlicher als im Original; nur die Augen wollen mir nicht so ganz gefallen. Das wird eine rechte Zierde meiner hübschen Studierstube in Berlin werden. Da soll das Bild grade über meinem Arbeitstische hängen und mich beständig an den herrlichen Großvater erinnern, dessen edlem Gemüt und fleckenlosem Charakter nachzueifern mein stetes Bestreben sein soll. Mit Van der Hoevens Zoologie, die ich mir schon sehr lange gewünscht habe, habt Ihr mir ebenfalls eine sehr große Freude gemacht. Ich erhielt das schöne Buch schon vor vier Tagen. Dir, meine liebe Herzensmutter, sage ich noch ganz besonderen Dank für die zärtliche Sorgsamkeit, mit der Du meine Speisekammer bedacht hast. Bei der spartanischen Kost, die ich hier meistens genieße, kann man wirklich zuweilen so eine kleine Leckerei gut brauchen . . .

Trotz der Entfernung von Euch Lieben und trotz meiner hiesigen Einsamkeit, welche mir eine eigentlich gemütliche und behagliche Festfreude unmöglich machten, trotzdem habe ich diesmal eine so recht tiefe und innige Weihnachtsfreude genossen, wie vielleicht nie vorher. Am Heiligabend war freilich wenig davon zu merken. Ich brachte deselben mit Strube und Beckmann in einer Weinkneipe ziemlich trübe und versiegelt zu. Meinen beiden Freunden mochte ebenfalls die Heimat sehr im Sinn stecken und sie waren auch nicht weniger als lustig gestimmt. Selbst der sonst so heitere und witzige Peter war heute ganz still und konnte es zu keiner fröhlichen Stimmung bringen. Jeder dachte nur an die fernen Lieben, und so saßen wir still und schweigend vor unserem berühmten Steinwein, der sonst so leicht Herz und Zunge löst, diesmal aber den starren Trübsinn und das Heimweh nicht zu lösen vermochte. Mir schwebte beständig der mit funkelnden, großen Lichtern besetzte Tannenbaum vor, um den Ihr Lieben alle jetzt versammelt sein würdet, und an dem meine lieben kleinen Neffen, wenigstens mein Patchen, seine reine kindliche Freude haben würde. Dann dachte ich wieder mit Sehnsucht an die früheren Kinderjahre zurück, wo ich auch so ganz harmlos und sorgenfrei der schönen, lieblichen Weihnachtsfreude mich hingegeben hatte. Je trauriger und düsterer mir so der heilige Abend verfloß, desto freudvoller und glücklicher erschien mir der erste Weihnachtsfeiertag. Freilich hatte ich auch keine befreundete Seele, der ich mein ganzes Innere hätte offenbaren und mitteilen können, und die hohe Befriedigung, gegen ein verwandtes Gemüt meine Gedanken und Gefühle aussprechen zu können und in ihm einen harmonischen Anklang zu finden, fehlte mir heute wie gestern. Um so inniger und tiefer fühlte ich aber, wie sehr meine innigsten Überzeugungen und besten Bestrebungen in Eurem treuen Herzen, liebe Eltern, die volle, tiefe Aufnahme finden, die sie verdienen, und dieser Trost, die feste, unwandelbare Überzeugung unserer Geistesgemeinschaft, versetzte mich trotz der weiten Entfernung so lebhaft mitten unter Euch, daß mir nicht anders war, als hätte ich eben erst das Glück genossen, auch leiblich bei Euch zu sein, und Angesicht gegen Angesicht mein ganzes volles Herz mit allen Hoffnungen und Zweifeln, Freuden und Leiden gegen Euch auszuschütten. Die glückliche Stimmung, in der ich den ersten Feiertag verlebte, wurde zum großen Teil durch eine treffliche Predigt bedingt, welche ich am 25. 12. hier von einem alten Kirchenrat hörte und welche meinen eigenen Gedanken und Hoffnungen an diesem schönen Feste so sehr entsprach, als wäre sie mir aus der Seele genommen. Ich wurde dadurch veranlaßt, einmal tiefer über mein Verhältnis zum Leben und zu meiner Aufgabe in demselben nachzudenken. Ich gelangte da schließlich zu dem erfreulichen Resultat, daß ich in dem verflosenen Jahre doch meiner Lebensaufgabe um ein Bedeutendes näher gerückt bin; überhaupt trete ich das neue Jahr 1856 mit ganz anderen Hoffnungen und Vorsätzen an wie die vorhergehenden. Wenn in den verlebten drei Studentenjahren Neujahr für mich immer ein Tag des bittersten Schmerzes war, an dem ich nichts Besseres tun zu können glaubte, als mich in tiefen, moralischen Katzenjammer über das nutzlos verflossene alte Jahr zu versenken und meine schlechte Nutzanwendung desselben, die vielen Fehler, die ich in demselben, statt Gutes zu tun, beging, zu bedauern, so verhält es sich diesmal ganz anders. Allerdings bin ich mir jetzt eher noch mehr als früher der großen Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit bewußt, an der alle meine Handlungen mich unnütz grämen, richte ich jetzt lieber meinen Blick vertrauensvoll in die Zukunft, mit dem festen Willen, es künftig eben besser zu machen. Blickte ich damals nur mit kindischem Zagen in das schwarze, neue Jahr hinein, von dem ich ebensowenig als von dem verflossenen erwarten zu können glaubte, so habe ich dagegen jetzt frischen, frohen Mut gefaßt und hoffe mit Gottes Hülfe noch etwas Ordentliches zu leisten. Schwebt mir gleich das Rätsel meiner Zukunft jetzt vielleicht noch viel mehr als früher in unbestimmten, dunkeln Umrissen nur vor, so überlasse ich vertrauensvoll die ganze Sorge dafür meinem Gott, der mich schon nicht verlassen wird. Ja, endlich darf ich wohl, ohne mich zu überheben, hoffen, ein tüchtiger braver Kerl zu werden, und behaupten, daß ich den festen, unwandelbaren Willen dazu besitze. Diese wesentliche Charakterveränderung glaube ich mit Freuden als das Resultat des vergangenen Jahres ansehen zu dürfen. Endlich, endlich sind Kraft, Mut und Hoffnung in mein banges, schwaches und verzagtes Herz eingezogen. Freilich ist es auch die höchste Zeit, daß ich endlich einmal jene kindische Schwäche, jenes übertriebene Selbstmißtrauen, das alle Tatkraft schächte und allen Lebensmut niederschlug, aufgebe. Wenn es auch später meine stete Sorge sein soll, aller fehlerhaften Schwächen meines Wollens und Handelns mit strenger Wahrheitsliebe mir bewußt zu werden, so will ich doch ferner nicht, wie bisher, mutlos darüber zagen, sondern vielmehr durch kräftige, vollkommene Handlungsweise immer mehr meinem Ideal mich zu nähern versuchen. Ich kann Euch hier unmöglich beschreiben, wie tief und gründlich ich in meinem Wesen mich jetzt verändert fühle, wie ich hoffe, sehr zum Bessern. Erst mündlich kann ich Euch ganz mein volles Herz darüber ausschütten, und ich denke, Ihr solltet es an meiner ganzen Handlungsweise gewahr werden . . .

Und welchen Umständen verdanke ich nun diese gründliche Umwandlung meines ganzen Wollens, Denkens und Handelns, über die Ihr Euch vermutlich nicht weniger als ich selbst freuen werdet? Ich glaube, vor allem zwei verschiedenen Ursachen: erstens der herrlichen Alpenreise und zweitens der ernsten Lebenschule, die ich im verflossenen Jahre und insbesondere in den letzten Monaten hier durchgemacht habe. Was die erstere betrifft, so werde ich mit jedem Tage mir mehr der unschätzbaren Vorteile bewußt, welche dieselbe, ganz abgesehen von den unaussprechlichen Genüssen und Naturanschauungen, welche mir ewig unvergeßlich bleiben, und diese Zeit als die schönste meines Lebens erscheinen lassen werden, für die Bildung meines Geistes und Charakters gehabt hat. Wie einseitig bleibt doch der Mensch, der stets nur in dem engsten Kreise seiner nächsten Umgebung verharrt und von dem düstern Winkel seiner Studierstube aus sich die herrliche Gotteswelt draußen konstruiert! Mit eignen Augen muß man das Leben schauen, mit eignen Sinnen die unendlich mannigfaltigen Modifikationen, welche es in den bunten Köpfen der einzelnen Menschen, wie im nationalen Leben der ganzen Völker erleidet, kennenlernen und sich einen wahren Begriff von der unendlichen Vielseitigkeit desselben machen und demgemäß auch sein eigenes Handeln und Denken darin zu einer bestimmten Richtung auszubilden, die man mit beharrlicher Konsequenz verfolgt.

Derselbe Umstand, nämlich das Hinaustreten in und das Bekanntwerden mit dem realen Leben, das Aufgeben theoretisch gebildeter Nebelgestalten von Idealen, ist es auch wohl, welcher, wenn auch in ganz anderer Richtung, in meinem hiesigen Leben der letzten Monate das eigentlich bildende und fördernde Element gewesen ist, und da ist es vor allem wieder das praktisch medizinische Studium, dem ich diese Anerkennung zollen muß. Wie sehr danke ich Euch jetzt schon, liebe Eltern, daß Ihr mich erbarmungslos gezwungen habt, dieses Studium, wie verhaßt und meinem ganzen Streben zuwider es auch von Anfang an war, doch konsequent durchzuführen. Ganz abgesehen von den unschätzbaren Vorteilen, die mir meine ärztliche Ausbildung behufs meines künftigen Fortkommens und insbesondere zum Zweck der Realisierung meiner Lieblings- (Reise-) Pläne eintragen wird, habe ich dadurch eine viel wahrere und deshalb bessere Anschauung vom Leben, wie es ist, bekommen, als ich mir in meinem Kopf austheoretisiert hatte. So gewiß ich es für notwendig halte, daß jeder Mensch, der mit wahrem Ernst der möglichst vollkommenen Erfüllung seiner Lebensaufgabe nachstrebt, sich ein gewisses Ideal ausbildet, das ihm bei allen Handlungen als das Ziel vorschwebt, dem er sich möglichst zu nähern hat, und so gewiß ich mir selbst ein rechtschaffenes solches Ideal geschaffen zu haben hoffe, ebenso gewiß glaube ich auch jetzt überzeugt worden zu sein, daß man bei gar zu einseitiger Verfolgung desselben, bei völliger Mißachtung und Entfremdung vom äußeren, realen Leben, sich von der Aufgabe, die man in letzterem durch das erstere zu erreichen sucht, immer mehr entfernt. Deshalb ist es jetzt mein ernstes und schon bald von Erfolg gekröntes Streben, auch mit dieser realen Welt mich vertraut zu machen, ohne deshalb den teuern Idealen, denen mein junger Sinn zugewandt bleibt, untreu zu werden; und diese Absicht habe ich zum großen Teil durch mein jetziges, hiesiges Leben erreicht . . .

In alter treuer Liebe Euer

Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999