Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

75. Brief

Würzburg, 20. 12. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Habt Ihr denn in Berlin auch so grimmige Kälte? Hier ist es so strenger Winter, wie man ihn sich seit 1829 nicht zu erinnern weiß. Das durch seine Milde berühmte subtropische Würzburger Klima ist auf einmal in Polarkälte umgewandelt. Für mich ist das, obwohl ich sonst schon ein großer Liebhaber von Kälte und Abhärtung bin, doch bei dem eisigen Zustand meiner luftigen Stube sehr fatal, und ich friere jetzt abends beim Schreiben förmlich an meinem Tische ein, so daß ich , wenn ich aufstehe, um um 12 oder 1 Uhr zu Bett zu gehen, ganz steif und starr bin und lange Zeit brauche, um im Bett nur einigermaßen warm zu werden. Ist dies dann endlich gelungen und ich fühle mich einmal recht behaglich warm im Nest, dann schrillt gewöhnlich um 2 oder 3 Uhr die unheilvolle Schicksalsglocke, welche zur Entbindung ruft. Namentlich in der vorletzten Woche kamen die Geburten förmlich haufenweis (die Folge der Karnevalswoche um Fastnacht!), und ich wurde drei Nächte hintereinander geweckt, so daß ich die Mutter Natur verwünschte, welche das Menschengeschlecht nicht durch Eier, wie die allermeisten Tierklassen, oder noch besser durch Sproß- und Knospenbildung, wie die Polypen, sich fortplanzen läßt. Doch was hilft's! Dieser Winter muß ausgehalten werden! . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999