Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

69. Brief

Würzburg, 18. 10. früh.

Liebe Eltern!

So begrüße ich Euch denn zum erstenmal wieder aus Würzburg! Wie Ihr aus dem beiliegenden Brief an Tante Berta, den Ihr ihr an ihrem Gebrutstag geben mögt, ersehen werdet, kann ich mich hier noch gar nicht wieder einleben. Die Reiselust und Reiseunruhe steckt mir noch in allen Gliedern und läßt mich nicht zu ruhiger, steter Arbeit kommen, die doch so sehr not tut. Der Kontrast zwischen dem hiesigen philiströsen Alltagsleben, in das ich nun wieder hinein muß, und der wundervollen Alpenwelt, die ich vor kurzem so herrlich genossen, ist aber auch in der Tat gar zu groß. Wie schrecklich eng, kleinlich, staubig und wurmförmig kommt mir hier alles vor. Wie anders dagegen auf den erhabenen Bergen mit ihrer großartigen, ich möchte sagen, überirdischen Natur, wo der Mensch so ganz frei ist, so ganz sich selbst und sein kleinliches Alltagsleben vergißt. Gewiß liegt in dieser unbeschränkten Freiheit, in diesem göttlichen Selbstvergessen nicht der kleinste Teil jenes unnennbaren Hochgefühls, das die Seele in den einsamsten großartigsten Stellen der Hochgebirgswelt unwiderstehlich zum Himmel emporzieht, so daß man wirklich dem Überirdischen, Göttlichen sich näher fühlt als sonst. Je mehr ich mich jetzt hier abmühe, mich wieder in das alte Philisterleben einzuzwängen, desto mehr werde ich von Tag zu Tag inne, wie ungeheuer weit ich durch die Reise aus ihm herausgerissen und in ganz andere und höhere Sphären des Denkens und Lebens hineingekommen bin. Freilich hat mich andererseits die lange Unterbrechung in dem medizinischen Studium sehr zurückgebracht, und ich bemerke stündlich mit neuen Schrecken, wie viel ich inzwischen verschwitzt und vergessen habe. Als ich gestern das dickleibige Handbuch der Materia medica, das schrecklichste Marterwerkzeug, das jemals der geistlose Quacksalbersinn praktischer Ärzte zur Qual des freien Geistes ersonnen hat, ein paar Stunden in der Hand gehalten und vergeblich die alten Reminiszenzen daraus mir zurückzurufen versucht hatte, geriet ich wirklich fast in Verzweiflung, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich urplötzlich mein Bündel geschnürt und wäre noch auf ein paar Tage zu Euch nach Berlin gespritzt, wozu ich überhaupt, seit ich wieder hier bin, fast stündlich mich versucht gefühlt habe, und schon mehr als einmal drauf und dran war, den tollen Gedanken auszuführen. Gar zu gern möchte ich Euch jetzt mein übervolles Herz ausschütten, und doch kann es nicht sein und ich muß schon bis Ostern warten. Die Lücken in meinen medizinischen Kenntnissen sind jetzt so großartig, daß mir eigentlich jede Sekunde wertvoll sein sollte, um sie auszuflicken. Und doch kann ich mit aller Anstrengung die Gedanken noch nicht von der Reise sammeln und in das alte Joch zwingen. Hoffentlich wird es mit Anfang der Kollegien und Kliniken besser! Mein einziger Trost ist jetzt Tschudis herrliches Buch über die Altenwelt (das mir Karl geschenkt hat). Gestern stieß mir folgender Satz darin auf, der mir wie aus der Seele gesprochen war: "Wie die Berge hoch und einsam über das Flachland hinaufragen, so ragen die Gedanken Gottes, die in ihnen ruhen, über das alltägliche Leben und Gemüt, und wir würden wohl tief aufatmen und die Hüllen unserer so oft in kleinlicher Verbildung ruhenden Weltanschauungen brechen, wenn wir unseren Ideenkreis und unser Gemütsleben öfter an jenen ewig schönen Originalien, an jenen kristallisierten Schöpfungsgedanken des Weltgeistes auffrischen und ausweiten wollten!" - !! . . .

Tausend herzliche Grüße von Eurem alten Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999