Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

68. Brief

München, 10. 10. 1855.

Liebste Eltern!

Am Montag, den 1. Oktober, bestiegen wir früh Schloß Ambras und die Lanser Köpfl, zwei Hügel südlich von Innsbruck, von wo man noch eine ganz herrliche Aussicht über das ganze wunderschöne Tal, worin die Stadt so anmutig liegt, genießt. Mittwoch besuchten wir das interessante Tiroler Landesmuseum in Innsbruck (ganz analog dem Linzer Museum für Österreich) und fuhren dann mit Stellwagen bis Schwatz. Von hier gingen wir am andern Tag, 2. 10., über Jenbach, den herrlichen Achensee und Bad Kreuth nach Tegernsee, eine sehr hübsche Tour von 15 Stunden. Leider war zu Anfang grade so ein exquisites Regenwetter zum Abschied von den Hochalpen, wie beim Eintritt in die Alpen bei Ischl. Später klärte es sich jedoch leidlich auf. Auch Tegernsee liegt noch sehr lieblich. Von hier fuhren wir am andern Morgen per Stellwagen nach München (am Mittwoch, 3. 10.), eine ganz erschrecklich elende ebene Strecke von acht Stunden, die wir aber erst in 10 zurücklegten, da lauter echte Bierbayern im Wagen saßen, die in jedem Wirtshause, das der liebe Gott am Wege hatte wachsen lassen, einkneipen mußten. Trotzdem der Weg erschrecklich langweilig war, so war ich doch in einer so selig dankbaren und glücklichen Stimmung, einer solchen innigen und stillen Freude über alle die wunderbaren Herrlichkeiten, die ich in diesen acht Wochen genossen, daß ich von der Langeweile, die meinen Reisegefährten umbringen wollte, gar nichts merkte. Selten bin ich wohl so andauernd in einer so seligen, still gottvergnügten Stimmung gewesen, wie in jenen ersten Tagen nach der Reise. Nur durch das wehmütige Gefühl des Abschieds von der wundervoll erhabenen und großartigen Alpenwelt, die ich so unendlich liebgewonnen, mit der ich so ganz innig vertraut geworden war, wurde das stille Wonnegefühl etwas getrübt. In wie ganz anderer Stimmung war ich doch ausgezogen. Mit tausend bangen Befürchtungen und Ängsten, unsicher und schwankend, war ich abgereist. Weder körperlich noch geistig glaubte ich die Kraft zu haben, eine solche Reise durchzuführen; namentlich hatte ich geglaubt, daß mein Knie schon in der ersten Woche solchen Strapazen erliegen würde. Und wie ganz anders und herrlich hat sich das alles gemacht! Ich habe tausendmal mehr und Schöneres gesehen, als ich gehofft, bei weitem stärkere Strapazen durchgemacht, als ich erwartet, das allem mit dem größten Nutzen für den Körper nicht minder als für den Geist. Ihr müßtet mich jetzt sehen und sprechen, um zu sehen, was für ein ganz anderer Mensch ich durch diese einzige Reise geworden bin. Während ich früher mir in hypochondrischer Laune einbildete, in einen elenden schwächlichen Körper gebannt zu sein, weiß ich jetzt aus Erfahrung, daß ich Strapazen ertragen und Märsche, Gebirgsmärsche, aushalten kann, wie wohl wenige andere Alpenreisende. Wenigstens habe ich unter zirka 60 Reisenden, mit denen ich eine größere Strecke gelaufen bin, nur einen einzigen gefunden, der mich übertroffen hat (sonderbarerweise ein katholischer stud. theol. , ein baumstarker Kerl, der freilich auch nicht gegen 30 Pfund zu schleppen hatte, wie ich meistenteils). Kurz, ich fühle jetzt frisches neues Jugendfeuer durch alle Adern glühen, wie nie vorher. Gewiß nicht minder ist der Geist dabei erstarkt. Namentlich habe ich einen großen Teil der kindischen Menschenscheu und furchtsamen Ängstlichkeit abgelegt, die mir bisher den Umgang mit fremden Menschen so verleidete. Ganz abgesehen aber von allem Nutzen, den die herrliche Alpenreise auf den Charakter ausgeübt hat, hat sie auch meine Kenntnisse und Anschauungen unendlich bereichert und vermehrt, ganz besonders natürlich die naturwissenschaftlichen und in specie botanischen. Wie ganz anders werde ich jetzt Geologie und physikalische Geographie studieren können! Der Reichtum der neuen Anschauungen ist wirklich so fabelhaft groß, daß ich noch lange zu tun haben werde, um diese wunderbaren Eindrücke nur einigermaßen zu ordnen. Wie ganz andere Ansichten habe ich aber auch vom Menschen und gesellschaftlichen Leben bekommen, und wie habe ich dabei im steten Verkehr mit Freunden an Selbstständigkeit gewonnen! Kurz, liebe Eltern, den wahren Nutzen, den ich, ganz abgesehen von den reinsten und edelsten Naturgenüssen, die ich in so reichem und hohem Maße genossen habe, schon bloß für die Ausbildung meines Charakters von dieser Reise gehabt, ist so unendlich groß, daß ich Euch nicht genug dafür danken kann, mir die Mittel zu dieser Reise gewährt zu haben. Wie dankbar muß ich aber auch gegen Gott sein, daß er alles so gütig und gnädig gefügt und mich geführt hat. Wenn ich im ganzen auch selten in ernstlicher Gefahr war, so konnte doch z. B. die Ötztaler Partie ziemlich schlimm ablaufen. Was mich noch ganz besonders freut, ist, daß ich meinen ursprünglichen Reiseplan (den ich zunächst meinem lieben Richthofen verdanke) im ganzen so konsequent durchgeführt habe, mit Ausnahme der Nordosttiroler Partie (Kriml, Zillertal, Tuxer Tal), die Regen vereitelte. Wenn ich den Alpenteil meiner Reise mit demjenigen vergleiche, den der Aufenthalt in Städten, und namentlich die acht Tage in Italien, in Anspruch genommen haben, so gebe ich, im Gegensatz zu den meisten andern Reisenden, dem erstern entschieden bei weitem den Vorzug. Freilich mag es sein, daß das speziell naturwissenschaftliche Interesse, das die Alpennatur bietet, jenes letztere, mehr ethnographisch-historische Kunstinteresse bei mir gar zu sehr überwiegt, aber schon die mannigfachen Beschwerden und Anstrengungen, welche mit der Alpenreise verbunden sind, geben ihren Genüssen einen um so viel höheren Wert. -

Das geringste Interesse hat für mich bis jetzt noch das berühmte Musikfest gehabt, von dem doch so schrecklich viel Wesens und Geschrei gemacht wird. Ich habe dabei wieder gesehen, daß mein musikalischer Sinn eigentlich gleich Null ist. Die einzige Musik, für die ich mich interessiere ist das Volkslied. Vorgestern war hier im Glaspalast ein riesiges Militärkonzert (von 225 Musikern, sämtlichen Musikern der Garnison München), das mich weit mehr interessiert hat als das viel berühmtere große Musikfest mit seinen 900 Sängern und 200 Instrumenten. Die Beschreibung des letztern (am 4. und 5.) habt Ihr wohl in den Zeitungen gelesen. Mich hat es nicht sehr entzückt. Dagegen haben die ganz wunderbar schönen und reichen Schätze der bildenden Kunst, die einem auf Schritt und Tritt hier in die Augen springen, einen umso bedeutenderen Eindruck auf mich gemacht. Namentlich geht mir die neue Pinakotek, demnächst die Glyptothek und die wundervollen Fresken aus der Odyssee und den Nibelungen in der Residenz über alles andre, was ich bisher gesehen . . .

Ade! Der nächste Brief wieder aus Würzburg.

Euer alter Ernst.

Ich wollte, daß Ihr mich im Reisekostüm bei meinem Einzug in München hättet sehen können. Es war tausend Glück, daß Hein mir einen vollständigen Anzug hierher post. rest. geschickt hatte. Mein grauer Reiserock ist mir buchstäblich in Lappen vom Leibe gefallen. Von den drei mitgenommenen Hemden existieren nur noch einige Oberteile.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999