Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

70. Brief

Würzburg, 23. 10. 1855.

Liebe Eltern!

. . . Am Sonntag habe ich endlich einen kühnen Anlauf genommen und bin mit einem Satz in die edle ars medica verzweifelt hineingesprungen. Ich bin nämlich seit dem "ewig denkwürdigen" 21. Oktober 1855 p. C. n. wirklicher poliklinischer Praktikant! hört, hört !! und bringe jetzt jedem Morgen zwei Stunden bei meinen Patienten zu!!! Möchtet Ihr nicht an der Stelle dieser armen Tierchen sein?? Es klingt wirklich lächerlich, ist aber nichtsdestoweniger wahr! Ich wollte nur, Ihr könntet mich sehen, mit welcher hochwichtigen Amtsmiene, den grauen poliklinischen Hut auf dem Kopf, Stethoskop und Plessimeter in der Tasche der imposante Herr Doktor auf der Praxis herumläuft! Mein erster Patient war ein Mann von 45 Jahren, Heizer, welcher vor vier Tagen plötzlich einen sehr heftigen Anfall von Cholera sporadica gehabt hatte. Zum großen Glück für ihn fiel es ihm erst am vierten Tage, nachdem die Krankheit selbst eigentlich schon vorüber war, ein, nach dem Doktor zu schicken. So habe ich jetzt nur die Nachbehandlung zu leiten, und war denn schließlich so glücklich, nachdem ich ein paar Stunden lang sämtliche Ecken und Enden seines Körpers genau untersucht, am untern Lappen der linken Lunge etwas Emphysema pulmonum zu entdecken (durch physikalische Exploration), welches der Mann wohl schon seit Jahren ohne Beschwerden hat, das aber nun, da er einmal unter der Kur ist, doch ohne Gnade behandelt werden muß, und wogegen ich denn feierlich mein erstes Rezept losließ . . .

Du wünschst das Nähere über mein Gletscherabenteuer zu wissen. Dies ist zwar sehr einfach, läßt sich aber besser in corpore vormachen, als abbilden oder beschreiben. Ich hatte den unübertrefflichen Alpenstock von acht Fuß Länge, dem ich allein meine Rettung verdanke, in der rechten Hand fest gefaßt. Dieser legte ich beim Falle, als ich mit der Körperhälfte im Schnee saß, quer über die Spalte, so daß ich ganz sicher an ihm hängenblieb und mich nun an ihm mit der freien Hand herausarbeiten konnte, wobei mich der Führer noch am Wickel faßte. Das feinere Detail ist mir selbst nicht recht klar geworden, zumal ich damals nicht gerade sehr aufgelegt war, scharfsinnige Kombinationen über die physikalische Richtung der Fallinien oder das "Wie" des Herauskommens anzustellen, sondern meinem Gott danke, daß ich draußen war, wozu ich auch alle Ursache hatte . . .

Seid herzlich gegrüßt von Eurem alten

Ernst Haeckel.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999