Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

52. Brief

Helgoland, 30. 8. 1854.

Liebste Eltern!

Das Tagebuch, das ich über meinen Helgoländer Aufenthalt zu führen angefangen, und von dem noch ein Blatt hierbei folgt, wird Euch nachgerade wohl ziemlich langweilig werden. Eigentlich kann es auch weiter nichts enthalten als immer ein und dasselbe, nämlich meine ungeheure Freude an der See und ihrem Leben, ihren Bewohnern und Geschöpfen, der prachtvollen unvergleichlichen Mannigfaltigkeit der niedlichsten Pflanzen und Tiere und was dergleichen mehr ist. Ich kann Euch das so gar nicht schreiben, wie ich es Euch mündlich aussprechen möchte und werde; nur das eine statt alles andern, daß mein Entschluß, künftig als Naturforscher, namentlich Zoolog, tropische Seeküsten zu untersuchen, jetzt feststeht (soweit nämlich der menschliche Entschluß ohne die göttliche Zustimmung hierbei etwas hilft!), und daß die Zoologie jetzt definitiv und für immer die Botanik aus meinem Herzen verdrängt hat. Das Weitere darüber setze ich Euch bald mündlich auseinander, wie es denn wohl überhaupt das beste für mich sein wird, das weitläufige Briefeschreiben jetzt etwas zu beschränken, da ich doch nicht die rechte Ruhe und Muße zu irgend etwas, am wenigsten zu vernünfigtem Briefschreiben finden kan und gern noch zehnmal so viel Zeit aufs Mikroskopieren verwenden möchte. Auch ist in der Tat von meinem Leben sehr wenig Merkwürdiges, d. h. für Nichtnaturforscher Interessantes zu berichten. Es geht jetzt ziemlich ein Tag wie der andre pfeilschnell vorbei. Ich stehe früh um 1/2 6 Uhr auf, gehe entweder gleich zum Bade oder mikroskopiere bis dahin. Nach dem Bade, das ich untr die höchsten körperlichen Vergnügungen rechne und das mir außerordentlich gut bekömmt, trinke ich Kaffee, d. h. drei Tassen Runkelzichoriendekokts und esse dazu ein ganzes Weißbrot mit göttlichem Appetit. Mit ebensolchem wird das Mittagbrot verzehrt, welches ich mir von meinem früheren Wirt, Joachim Stolt, holen lasse. Es kostet freilich einen halben Taler, ist aber ganz ausgezeichnet, sehr wohlschmeckend und so außerordentlich reichlich, daß meine große Studentenmagentonne bis auf das Spundloch ganz angefüllt wird, so daß ich mit Behagen nachher durch Perkutieren die völlige Füllung desselben konstatieren kann. Trotzdem in Berlin wir vielleicht alle drei an der riesenhaften Portion satt werden könnten, lasse ich hier allein gewöhnlich kein Brosämlein von der Ganzen Mahlzeit (Suppe, Braten mit Gemüse, Fisch mit Kartoffeln, Mehlspeise), welche ich mit dem größtmöglichen Wohlbehagen verzehre, übrig. Solchen gigantischen Appetit macht das köstliche Seebad. Dafür esse ich auch gewöhnlich abends gar nichts, sondern gehe nach einem Abendspaziergang mit Vallette oder Esmarch herzensvergnügt, aber mit schon wieder ziemlich leerem Magen um 1/2 10 Uhr zu Bett, wo ich dann musterhaft meine 8-9 Stunden abschnarche. So könnte ich hier körperlich und geistig ein wahres Schlaraffenleben führen, wenn ich nur Ruhe und Muße hätte. Übrigens komme ich bei dieser Art zu leben immer noch am billigsten und besten weg. Die ersten Tage aß ich im Speisehause nach der Karte, kriegte für viel mehr Geld doch nichts Rechts und mußte schließlich den ganzen Tag hungern, was ich bald satt wurde. Überhaupt ist das Leben hier sehr teuer, grade dreimal so teuer als in Würzburg. Alles nämlich, was dort einen Kreuzer kostet, kostet hier grade ganz genau 1 Schilling, was das Dreifache ist. Aber wenn auch der Aufenthalt hier noch dreimal so teuer wäre, so würde er mich doch nicht reuen, er ist mir gradezu unbezahlbar. Was ich hier jeden Tag Neues sehe und lerne, könnt Ihr Euch gar nicht denken; noch weit weit über meine kühnsten Erwartungen und Hoffnungen hinaus. Alles, was ich jahrelang vorher in Büchern studiert, sehe ich hier nun mit einem Male mit eigenen Augen wie hingezaubert, und jede Stunde wird künftig die herrlichsten Erinnerungen bereiten, wie sie mir jetzt Überraschung und Belehrung bringt. Übrigens ist hier auch wirklich alles interessant (weshalb natürlich die langweiligen Badegäste, welche mir wie Buttermilchsuppe vorkommen und mich ebenso anwidern und verscheuchen, alles ohne Ausnahme hier langweilig finden). Selbst der Charakter des Volks ist ganz eigentümlich. Durch den Fremdenverkehr wird er natürlich jährlich mehr und mehr verdorben. Vor diesem muß es aber ein ganz prächtiges nordisches, urdeutsches Kernvolk gewesen sein, wovon noch jetzt die Spuren überall sichtbar sind. Zum Beispiel findet Ihr unter all den Männern und Frauen kein einziges flaches schmales Gesicht, wie sie bei uns zu Tausenden herumlaufen. Alle haben einen bestimmt ausgeprägten Charakter und scharfe, aber feingeschnittete Züge . . .

Eben fällt mir ein, daß ich am Tagebuch fast die Hauptsache vergessen habe, daß nämlich am Dienstag abend Grottenerleuchtung stattfand, welche aber im ganzen ziemlich schwach ausfiel; das Ganze bestand in 10-12 bengalischen roten Flammen, welche die grotesken Felsengruppen und Höhlen an der Südwestseite des Felsens sehr romantisch erleuchteten. Die Hauptfreude machte mir dabei das Seeleuchten, welches ich in der stockfinsteren Nacht zum ersten Male sah. Zwar leuchtete nicht das ganze Meer, aber hinter jedem Ruderschlag und hinter meiner immer plätschernden Hand zog ein schöner Silberstreif blitzender Funken hin. Heute habe ich übrigens die allerliebsten kleinen Tiere ( Noctiluca, Beroe usw.), die das Seeleuchten bewirken, mikroskopiert. Am Donnerstag, 24. 8., erhielt ich durch Tein Taten wieder Tiere vom Austernfang, prachtvolle große Seesterne, Polypen, Muscheln, Schnecken, Krabben usw. usw., worüber ich mich gar nicht genug freuen konnte. Diese hier in der See so gemeinen Dingern könnten durch ihre Schönheit und durch ihren wundervollen Bau, wenn sie mehr beachtet würden, die schönsten Muster für Kunstwerke usw. abgeben. Besonders entzückten mich die prachtvollen, wie Rubin und Smaragd grün und rot glänzenden Augen, welche am Mantelrand einer Muschel (Pekten) zu mehreren Dutzend angebracht sind. . . .

Als wir Dienstag nachmittag in der "Lästergasse" die mit dem Dampfboot neu angekommenen Passagiere musterten, bemerkten wir unter diesen zu unserer nicht geringen Freude und Überraschung Johannes Müller, unsere größte und erhabenste Autorität, deren Hiersein wir uns so sehr gewünscht, aber kaum noch gehofft hatten. Er kam mit seinem Sohne, Max Müller, welcher Dr. med. ist, um hier die Larven und Entwicklungstufen der Echinodermen, d. h. der Seesterne, Seeigel usw. zu studieren. Die Entdeckung der Entwicklungsgeschichte dieser höchst merkwürdigen Tiere hat Müller seinen Ruhm nicht zum kleinsten Teil verschafft, und das Material dazu hat ihm schon seit vielen Jahren Helgoland geliefert. Als wir sie begrüßten, bewillkommneten sie uns sehr freundlich und verabredeten sogleich mit uns, unsere Ausfahrten zum Seetierfischen usw. gemeinschaftlich zu machen. Dadurch hat nun unsere ganze Beschäftigung und Zeiteinteilung mit einem Male eine ganz andere Richtung bekommen. Das Sammeln, Tangetrocknen, Tiere-Einlegen und Sezieren hat aufgehört, und wir fahren statt dessen täglich früh mit beiden Müllers auf das offne Meer 1-2 Stunden hinaus, wo wir mit dem Schöpfnetz in kurzer Zeit Tausende der reizendsten Seegeschöpfe, meist Entwicklungsstufen wirbelloser Tiere, Radiaten, Würmer und Krustazeen fangen, zu deren Mikroskopieren wir nun die ganze übrige freie Zeit verwenden und doch lange damit nicht fertig werden können. Das Nähere darüber kann ich Euch nur mündlich ausführlich erzählen.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999