Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

53. Brief

Helgoland, Sonntag abend, 10. 9. 1854.

Meine lieben Alten!

Zunächst herzlichsten Dank für Euren letzten Brief, den ich sehnlichst erwartet hatte. Die Briefe von Haus sind hier, wo man so von aller Welt isoliert ist, wirklich immer die Glanzpunkte des Gemütslebens, und wenn das Dampfschiff angekommen ist und die Lästergasse sich verlaufen hat, hört man an allen Ecken und Enden nichts als Fragen, ob noch kein Brief angekommen ist. Mir ist es in der letzten Woche, wie auch in den beiden früheren, ganz vortrefflich gegangen, sowohl was den Körper, als den Geist betrifft. Körperlich fühle ich mich, abgesehen von dem alten bösen Knie, auf das das Bad keine Wirkung ausübt, wie es denn überhaupt gegen alle Reize schon abgestumpft zu sein scheint, äußerst wohl und munter, wie seit langer Zeit nicht, was ich hauptsächlich der ganz herrlichen Seeluft zuschreibe, die ich mit wahrer Wonne einatme, und die sich zu der schrecklichen Berliner Staubluft wie Tag und Nacht verhält. Auch die Temperatur ist hier äußerst angenehm, immer dieselbe angenehme Kühle. Von Hitze und Schwitzen ist noch nicht die Rede gewesen. Das Bad tut meinem corpusculum ebenfalls äußerst wohl, und ich stürze mich immer mit lautem Jauchzen in die Wellen. Dagegen ist die geistige Beschäftigung, Arbeit und Belustigung in dieser Woche wesentlich anders als in der vorigen gewesen. Seit nämlich Johannes Müller nebst Sohn hier ist, beginnt unser eigentliches Tagwerk damit, daß wir in Gesellschaft dieses Leitsterns in der vergleichenden Anatomie um 8 Uhr auf 1-2 Stunden in die See hinausfahren und die Oberfläche der See mit einem Schmetterlingsnetz abfischen, wo wir denn immer eine reiche Auswahl der allerreizendsten Geschöpfchen zum Mikroskopieren erhalten. Übrigens sind diese Fahrten nicht nur sehr lehrreich, sondern auch amüsant, indem der alte Müller uns fast beständig sehr lustig und geistreich unterhält. Da uns aber die so erhaltenen zoologischen Schätze dann den ganzen Tag am Mikroskop vollauf beschäftigen, so kommen wir zu wenig andern Sachen, und namentlich ist von der Beschäftigung mit Seetangen und größeren Seetieren seither nicht viel die Rede gewesen. Andere Seefahrten habe ich auch wenig gemacht. Jedoch fuhr ich am Montag mit Dr. Esmarch, einem Freunde desselben, Pastor Henel aus Göttingen und Herrn Kaufmann Weber aus Hamburg um die Insel. Gestern früh machte ich bei Springebbe mit la Valette und Tein Taten eine Fahrt nach den Seehundsklippen, nach welchen ich schon längst gern hingewollt hatte. Diese Klippen liegen östlich von der Insel, sind nur bei dieser niedrigen Ebbe eine Stunde von Wasser entblößt und ganz mit Tang bewachsen. Von diesem letzteren fand ich ein paar hübsche Schmarotzerarten. Zwischen dem Seetang saßen aber viele der allerniedlichsten Tiere, namentlich reizende Polypen (Tubularia, Eudendrium, Actinia), Seespinnen (Pycnogonum littorale) und ein sehr merkwürdiges Manteltier ( Amaroecium rubicundum). Außerdem sahen wir in nicht allzu großer Entfernung ein paar Seehunde. Gestern abend fuhren wir mit Änkens nach der Düne zum Fischfang. Es war eine ganz herrliche Vollmondnacht, warm und schön, und wir fischten da bis gegen 12 Uhr. Das Merkwürdigste, was wir bekamen, war der schöne grüne Hornhecht (Belone vulgaris) mit grünen Knochen, an dessen höchst sonderbaren Eiern ich heute den ganzen Tag gesessen und mikroskopiert habe; außerdem Schwimmkrabben, ein paar Garneelen, die hier sehr selten sind, Seeteufel (Cottus Scorpius), Sprotten, eine Masse verschiedene Schollen und Dorsche nebst andern Fischen. Damit haben wir denn unsere Blechbüchsen und Gläser so ziemlich voll gemacht, und unser Zweck in dieser Hinsicht wäre erreicht. Dagegen will ich in der kommenden letzten Woche mich noch hauptsächlich mit Algen beschäftigen, wovon ich schon einen tüchtigen Stoß gesammelt habe. Mit solchen Beschäftigungen vergeht hier die Zeit, ich weiß nicht wie. Übrigens wird mir die nächste Woche etwas einsam werden, da alle meine Bekannten, la Valette, Esmarch, der sich Euch bestens empfehlen läßt, und Herr Weber morgen abreisen und ich ganz allein zurückbleibe. Johannes Müller geht nächsten Donnerstag weg. Ich will morgen, Montag, über acht Tage absegeln. Ich bin dann vier Wochen hier gewesen und habe gerade 30 Bäder gebraucht. Übrigens muß ich die Reise nach Aurich leider aus verschiedenen Gründen aufgeben. Der hauptsächlichste ist, daß ich meine hier gesammelten Schätze baldmöglich in Ordnung bringen muß, da mir die lieben Tierchen in dem schlechten Spiritus sonst ganz und gar verderben. Auch bin ich das Herumbummeln jetzt ziemlich satt und sehne mich recht wieder nach Hause und nach einer ordentlichen regelmäßigen Tätigkeit . . . Wenn Ihr also nichts dagegen habt, meine lieben Alten, denke ich Mittwoch oder Donnerstag über acht Tage wieder in Berlin einzutreffen. Bis dahin denkt noch fleißig an Euern alten

Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999