Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

51. Brief

Helgoland, Sonntag, 20. 8. 54.

Meine liebsten Eltern!

Am Mittwoch, 16. 8., früh 8 Uhr verließ ich, wie Ihr wißt, Berlin mit meinem Reisegefährten, Adolph de la Valette Saint George, nebst 200 Pfund Übergewicht. Von der Fahrt selbst ist wenig zu berichten. Das Merkwürdigste war, daß wir durch ein Stück dänisches und mecklenburgisches Land fuhren und in letzterm einen Offizier mit großen Vatermördern sahen, eine ebenso seltne als sonderbare Abart des miles gloriosus. Sonst ist die Gegend sehr einförmig. Nur eine Strecke vor Hamburg beginnt schöner Laubwald, mit weiten Wiesenplänen abwechselnd. Sehr nett war es, daß in Berlin noch ein zweiter Bekannter zu uns in Coupé stieg, der Siebenbürger Theolog und Naturmensch Carodi nämlich, welcher mich einmal nachmittags besuchte. Wir waren sehr vergnügt und munter, endlich einmal der Berliner heißen Staubatmosphäre entronnen zu sein.

Um 4 Uhr langten wir in Hamburg an und stiegen, mit dem Plan, erst Sonnabend von da abzufahren, in Zinggs Hotel ab. Nachdem wir uns mit gebratener Seezunge, einem kostbaren Fisch (Solea) erquickt, traten wir beide, Valette und ich, unsere Wanderung durch die höchst merkwürdige Stadt an. Zum großen Teil besteht sie noch ganz aus altertümlichen Häusern, wie man sie in Frankfurt am Main so viel sieht, daneben aber viel schöne neue Häuser, denen in Berlin ganz ähnlich. Alle Straßen, durch die wir gingen, wimmelten von einem dichten Menschengedränge, wie ich es fast noch nie gesehen hatte. Fischer, Schiffer, Matrosen bildeten den Hauptkern, dazwischen sehr viel Ausländer, sonnenverbrannte Südländer, stattliche Kaufherrn und Schiffskapitäne und was sonst der ungemein großartige Handel hier alles an Menschen zusammenführte. Dazu sah man in den Straßen fast keine Häuser ohne mehrere Kaufläden, wohl aber viele, wo deren ein halbes Dutzend beisammen waren. Das Schreien und Lärmen, Kribbeln und Wimmeln, was zu einem solchen ungeheuren, regen Verkehr gehört, könnt Ihr Euch denken. Kurz, es war ein Leben und Treiben, wie man es nur immer von den lebhaftesten Handelsstädten geschildert findet. Besonders interessant waren uns viele Läden mit den merkwürdigsten und seltensten ausländischen Tieren und andern Naturprodukten. Prachtvolle Sammlungen von Käfern und Schmetterlingen, ausgestopfte Vögel und Fische, Kunstprodukte ferner Weltgegenden und dergleichen hingen und standen da in den Schaufenstern bunt durcheinander. Wir gingen zunächst durch die Admiralitätsstraße nach dem Hafen. Wenn ich Euch das ganz neue Leben, welches sich hier uns eröffnete, nicht ordentlich nach dem ungeheuren Eindruck, den es auf uns machte, schildern kann, so liegt dies größtenteils daran, daß dieser Eindruck noch um vieles durch die mannigfaltigen Genüsse, welche uns nachher zuteil wurden, übertroffen wurde. Zwar hatte ich aus Reisebeschreibungen und dergleichen schon vieles über das Leben in einem solchen Hafen gelesen und mir auch ein ziemlich richtiges Bild davon gemacht; dennoch aber wurden meine Erwartungen weit übertroffen. Einen solchen wirklichen Wald von Schiffen, Masten, Rahen, Tauen und Matrosen, die darin herumkletterten, hatte ich mir doch kaum vorstellen können. Wir waren ganz entzückt und wußten gar nicht, wo wir zuerst zu bewundern anfangen sollten.

Nachdem wir das Treiben eine Weile uns angeschaut, bestiegen wir die Elbhöhe oder den Stintfang, einen höhen Hügel am Hafen, von dem man einen schönen Überblick über denselben sowie über die ganze Stadt und das gegenüberliegende Ufer genießt. Dann bummelten wir allmählich über verschiedene Straßen der Stadt zurück und gelangten so über mehrere schöne Plätze, auf deren einem eine sehr schöne neue Kirche, ähnlich unserer Petrikirche, die Nikolaikirche erbaut wird, nach dem entgegengesetzen, nordöstlichen Ende der Stadt, wo wir auf dem Jungfernstieg von einem kaum minder schönen Anblick überrascht wurden. Da sind hintereinander zwei große, klare Wasserbassins, durch einen Brückendamm getrennt. Das innere Becken, die Binnenalster, ist auf drei Seiten (die vierte Seite des Vierecks bildet der Damm) von drei prachtvollen Häuserreihen, den drei Jungfernstiegen, umgeben. Hier sieht man, wie überhaupt in den meisten Stadtteilen, die vom großen Brande verschont wurden, nur lauter schöne, große Häuser von der neuen Schinkelschen Bauart. Eines derselben ist der "Basar", eine elegante lange, von Glas bedeckte Halle, ein Glaspalast en miniature , dessen beide Seiten von lauter aneinanderstoßenden Schauläden mit den herrlichstsen und kostbarsten Waren aller Art gebildet werden. Darunter befindet sich ein Erdkeller, wie bei Kroll, worin alle Stände und Geschlechter auf eine sehr süddeutsch gemütliche Weise bei Bier und Wein sich ihres Lebens freuen. Hier trafen wir auch unsern Siebenbürger nebst mehreren Landsleuten und Kameraden wieder, mit denen wir uns verabredeten, an den nächstfolgenden Tagen die Partien in Hamburgs Umgebung gemeinschaftlich zu machen. Kaum aber waren wir von diesen wieder weg, als la Valette, welcher sich schon vorher über das "gar zu naturwüchsige Wesen" dieser Leute, und darüber, "daß sie nicht einmal ein reines Hemd anhatten", stark beschwert hatte, erklärte, daß er unmöglich mit ihnen die verabredeten Partien machen könne und lieber sofort morgen früh abreisen wollte. Nach langem Hin- und Herdebattieren überredete er mich denn auch, ihm zu folgen, besonders, da er mir vorhielt, daß wir schon alles Merkwürdige gesehen hätten und was dergleichen mehr ist, worüber ich mich nachher, als ich erfuhr, welche schönen Partien die andern gemacht hatten, sehr ärgerte. Nach vielfachem Streit, in welchem ich zuletzt nachgab, beschlossen wir also, noch einmal nach dem Hafen, wo die andern wohnten, hinauszuwandern und es ihnen abzusagen. Dann sahen wir uns Hamburg bei Nacht an und bummelten noch bis zum Alsterbassin, wo sich die drei Jungfernstiege mit dem vielen Tausend im Wasser sich abspiegelnden Lichtern sehr gut ausnahmen.

Wohl haben wir so in den paar Stunden unsres Aufenthalts in Hamburg ein ganz übersichtliches Bild der großartigen Handelsstadt gewonnen, wenn es aber geht, wünsche ich doch bei der Rückreise noch ein paar Tage dort zu verweilen, um die zahllosen Merkwürdigkeiten mir etwas genauer und ausführlicher anzusehen, namentlich die prachtvollen Blumengärten zu besuchen und auch noch die ganz reizende Tour am rechten Elbufer nach Blankenese zu machen. Die größte Wohlhabenheit sieht übrigens der ganzen Stadt aus den Augen; auch ist das Leben äußerst komfortabel und luxuriös. Die Leute sorgen nur dafür, wie sie möglichst viel Geld zusammenscharren, dann, wie sie möglichst gut leben, d. h. in modum Horatii gut essen und trinken. Daß die Sitten auch demgemäß entartet sind, könnt Ihr leicht denken, und in dieser, wie in mancher andern Beziehung steht Hamburg wohl mit viel größeren Weltstädten auf einer Stufe.

Am Donnertag, 17. 8., verließen wir Hamburg früh 6 Uhr mit dem schönen dreimastigen Dampfer "Helgoland", mit zwei Maschinen und Schornsteinen und an Breite, Länge und Tiefe schon ein ganz ordentliches Seeschiff von wenigstens 8 Fuß Bordhöhe. Es ist in diesem Frühling eigens zu dieser Überfahrt von Hamburg nach Helgoland gebaut worden, besteht ganz aus Eisen und macht in seinem Ganzen einen sehr respektablen Eindruck. Das anfangs heitere Wetter wurde bald sehr trübe und es fing stellenweise ganz ordentlich zu regnen an, was uns indessen nicht abhielt, stets auf dem Verdeck zu bleiben und das prachtvolle rechte Elbufer uns recht ordentlich, soweit es die rasche Vorbeifahrt erlaubte, anzusehen. Dies ist wirklich ganz reizend. Beständig wechseln sehr zierliche, in antikem Stil gebaute und auf einzelnen Erhöhungen des mindestens 50-60 Fuß hohen Elbufers sehr romantisch gelegene, von reichen Blumengärten umgebene Landhäuser und Villen mit schönen grünen Baumgruppen und bunten Wiesenabhängen ab. So beginnt eine Reihe solcher Tuskulana gleich hinter Altona, welches eigentlich nur als Vorstadt an Hamburg sich anschließt und reicht fast ununterbrochen bis zu dem berühmten Fischerdorfe Blankenese. Dieses genießt mit wegen seiner berühmten Lage eines großen Rufs. Höchst malerisch sind die einzelnen, von Bäumen umgebenen Häuser auf Vorsprüngen und in Winkeln der roten Felsen angeklebt. Bald dahinter wird das hohe steile Ufer niederer und einförmiger und entzieht sich auch den Blicken mehr durch die nun sehr bedeutend werdende Breite des Elbstoms. Dafür fesseln andere Objekte das Auge, der beginnende Wellenschlag und die mit dem Seewasser sich einfindenden Seevögel, Möwen, Seeschwalben und Taucher. Namentlich umschwärmten große Mengen sehr zierlicher kleiner weißer Möwen in einem fort das Schiff. Ab und zu besteigen hier immer Lotsen aus nahegelegenen Orten das Schiff, um uns durch das sehr gefährliche, von vielen Klippen und Untiefen umgebene Fahrwasser hindurchzuleiten. Dies dauert noch bis eine gute Strecke hinter Kuxhaven, wo zuletzt angelegt wird und von wo aus rechts schwarze, links weiße Tonnen das Fahrwasser bezeichnen. Das rechte Elbufer ist schon lange vor Kuxhaven, hinter Glückstadt verschwunden und bald sieht man auch das linke nicht mehr. Statt dessen erscheint jetzt zur Linken die Insel Neuwek mit ihrem Leuchtturm und bald dahinter zur Rechten sieht man eine beständig hier stationierte Lotsengaliote und weiterhin noch ein rotbeflaggtes Feuersignalschiff. Dies bezeichnet die letzten Ausströmungen der Elbe und nun fährt man mit einemmal in das offene freie Meer hinaus. Mit welcher Spannung ich diesem Moment erwartet, kann ich Euch kaum sagen, und doch wurden diese Hoffnungen noch weit übertroffen. Wir hatten durchaus nicht das, was man sonst eine schöne, d. h. eine ruhige, sanfte Seefahrt nennt; sondern zu meiner größten Freude, ebenso wie zum Schrecken der andern Passagiere, unter denen sich auch Herr Prof. Poggendorf aus Berlin nebst Frau und Tochter befand, hatte sich bald nach unserer Abfahrt von Hamburg ein heftiger Nordwestwind erhoben, welcher schon bei Kuxhaven zu einem förmlichen Sturm sich steigerte, so daß nur mit der größten Mühe und wirklicher Gefahr die Passagiere in Booten ans Land gesetzt werden konnten. Die heftig tobenden Wellen warfen dabei den kleinen Nachen mit solcher Gewalt gegen die eisernen Schiffwände, daß man jedem Augenblick meinte, er müßte wie eine Nußschale auseinandergehen. Schon lange vor Kuxhaven von den Wellen der Elbe geschaukelt, lag der enge Kajütenraum voll von hysterischen Frauenzimmern und mit ihren Frauen sympathischen Männern, welche von dem horror der Seekrankheit, gewiß zum großen Teil aus bloßer Einbildung, ergriffen waren und nun von der miseria felina varietes marina ganz jämmerlich zugerichtet wurden, so daß man nicht wußte, sollte man darüber lachen oder mitjammern, endlich aber doch das erstere wählte. Ich meinesteils hatte mir vorgenommen, unter keiner Bedingung seekrank zu werden, und habe diesen Vorsatz auch getreulich ausgeführt. Und das will etwas sagen, wenn Ihr bedenkt, daß dies meine erste Seereise war und daß von circa 50 bis 60 auf dem Schiff befindlichen Passagieren etwa 4 oder 5 nicht seekrank wurden. Die meisten fürchteten sich aber schon vorher sehr davor, sie verkrochen sich noch dazu unten in der Kajüte, wo das Schwanken und Schaukeln allerdings am allermeisten fühlbar wird und ich selbst vielleicht auch seekrank geworden wäre. Wenigstens wäre das kein Wunder gewesen. So aber tat ich keins von beiden, sondern blieb, fest in meinen Paletot gehüllt und die Mütze kreuzweis über den Kopf festgebunden, trotz Regen und Sturm beständig auf dem Verdeck. Anfangs hatte ich den besten Platz von allen. Ich stand nämlich neben dem Kapitän hoch oben auf dem Räderkasten, wo man nicht nur das Verdeck, sondern über alles, was man wollte, weit ringsumher hinwegschauen konnte. Als wir aber erst ganz in See hinaus waren und die heftig brüllenden und brandenden Wogen jeden Augenblick über den 8 Fuß hohen Bord des Vorderdecks von beiden Seiten wegschlugen und dasselbe förmlich abspülten, wurde mir meine hohe Stellung da oben etwas langweilig und es deuchte mir viel schöner, das Beispiel einiger lustiger Musikanten zu befolgen, welche ganz vorn am Schiff auf dem Bugspriet, d. h. dem schiefgeneigten kleinen Mast am Schiffsschnabel, vorn saßen. Vor diesen nahm ich Platz und saß nun zu allervorderst auf dem ganzen Schiff, reitend auf dem Bugspriet, vorn geschützt und festgehalten von den Geländern beider Seiten, welche hier in eins zusammenkamen, und an denen ich mich ganz gemütlich und sicher festhalten konnte. Natürlich war die Bewegung des Schiffes, dessen Vorderteil und Hinterteil von den Wellen abwechselnd hoch in die Höhe gehoben und dann wieder tief wie in einem Abgrund hinabgeschleudert wurden, hier am stärksten. Aber es war nicht das unangenehme Hin- und Herwanken, das in der Kajüte den Damen Verderben brachte, sondern ein höchst angenehmes Schaukeln, wie auf einer großartigen Turmschaukel. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ungeheuer wohl und lustig mir zumute war, und mit welcher Wonne ich die reine Seeluft einatmete und mich über die prachtvollen gigantischen Wogen freute. Ich hatte viel von haushohen Wellen von 20 Fuß und mehr Tiefe gelesen, hatte dies aber immer für Fabel und Übertreibung gehalten; nun wurde es aber vor meinen Augen vollständig erfüllt, und wie glänzend und großartig. Was war das für ein wonnevolles Gefühl, wenn der 12 Fuß hohe Bugspriet erst hoch in die Höhe sprang, so daß man vorn fast den Kiel vom Schiff sehen konnte, und dann wieder, wie ein Sturmvogel, tief kopfüber in die Fluttäler hinaubtauchte, daß die Wellen hoch über unsern Köpfen zusammenschlugen. Und welches Jauchzen jedesmal, wenn wir so total durchnäßt wurden. Nur zu früh für mich und für das Ende dieses unvergleichlichen Genusses erschien nach vierstündiger Fahrt, den armten Seekranken freilich äußerst erwünscht und heiß ersehnt, am Horizont der rötliche Streif, welcher sich beim Näherrücken immer deutlicher als das "heilige Eiland" erwies. Auch dieses Auftauchen aus dem einförmigen Zirkelstreifen des Horizonts war ein ganz eigentümlicher Anblick, wie überhaupt das Sein auf der ganz offenen See, wo man ringsum nichts als Luft und Wasser sieht, und nur hie und da einmal eine Möwe, eine Seeschwalbe oder ein Sturmvogel die ungeheure Wellenöde unterbricht und belebt, auf mich einen ganz unbeschreiblichen Eindruck gemacht hat. Ich halte diese erste Seefahrt, auf die ich mich so lange, lange vorher gefreut, unbedingt für eines der schönsten und genußreichsten Ereignisse meines ganzen Lebens.

Um 4 Uhr nachmittags ging der schöne dreimastige Dampfer zwischen Helgoland und der Düne (oder Sandinsel) vor Anker. Alsbald erschienen mehrere mit Helgoländern bemannte Boote, welche die armen, meist von der Seekrankheit jämmerlich mitgenommenen Passagiere dem kleinen langersehnten Eiland zuführten. Hier war aber noch eine harte Probe zu bestehen. Vom Strand nämlich bis zu den ersten Häusern, ungefähr 80 Schritt, wird bei jeder Ankunft des Schiffs eine Barriere aufgestellt, auf jede Seite des 3 Fuß breiten Wegs, den die Fremden passieren müssen. Hier versammelt sich nun, sobald drei Kanonenschüsse die Ankunft des Dampfboots gemeldet haben, die ganze Bade- und Einwohnerwelt von Helgoland, zählt die Neuankommenden der Reihe nach ganz laut und macht auf die unverschämteste und ungenierteste Weise ihre kritischen und sonstigen Bemerkungen über dieselben. Wenn man nicht vorher auf diesen schauderhaften Empfang gefaßt ist, weiß man wirklich kaum, wie man möglichst rasch und unbeobachtet durch diese wahre Spießrutengasse hindurch kommen soll. Nachdem wir nun den Bemerkungen und Witzen der resp. Badegäste glücklich entronnen waren, gingen wir sogleich mit unseren Sachen uns eine Wohnung suchen . . . .


22. 8., Dienstag abend.

Wenn Ihr Euch wundern solltet, wie dies blaue Briefblatt in die andern weißen hineinschneit, so diene Euch zur Erklärung, daß derselbe heute früh auf der Düne geschrieben ist, ganz ex tempore. Ich fuhr nämlich heut früh, wie gewöhnlich, um 6 Uhr mit dem ersten Boot, mit welchem die Badefrauen und Badegehilfen hinübersegeln, nach der Düne hinüber. Als ich nun gebadet hatte, erhob sich ein so fürchterliches Unwetter, Regen und Sturm, daß ich mich schleunigst in den dort befindlichen Pavillon rettete und hier vergebens über eine Stunde auf ein Boot zum Zurückholen wartete. Als nun aber immer keines erschien, setzte ich mich aus Verzweiflung hin und fing diesen Brief an. Das Lob auf das überaus herrliche Seebad ist freilich nur schwach im Vergleich zu der unaussprechlichen Wonne, welche ich dabei sowie überhaupt bei dem mir so ganz neuen und wunderbaren Seeleben, das wie in eine ganz neue fremde Wunderwelt mich einführt, empfinde. Überhaupt müßt Ihr von meinen hiesigen Briefen, liebste Eltern, nicht allzuviel erwarten. Die Hauptschilderung meines hiesigen Lebens und Treibens kann ich Euch erst mündlich geben. Ich kann zum Briefschreiben hier absolut keine Zeit (die hier, wenigstens für mich, noch teurer als alles andere ist) gewinnen, noch weniger aber die nötige Ruhe, welche mir, wenn ich sie überhaupt jemals zu besitzen das Glück gehabt hätte, hier jetzt gänzlich abhanden gekommen ist. Kaum habe ich jemals solche beständige hastige Angst und innere Unruhe gespürt wie hier, trotzdem mir der hiesige Aufenthalt, wenn ich nur weniger leidenschaftlich wäre, ein wahres Paradies sein könnte und müßte. Das Leben kömmt mir aber hier wie eine wahre Hetzjagd vor. Doch davon später mehr. Jetzt fahre ich im Tagebuche fort.

Am Freitag, 18. 8., war mein erstes Geschäft, zum Baden nach der Düne oder Sandinsel, einem schmalen, langen Sandstreifen, etwa eine Viertelstunde von der Insel entfernt, hinüberzufahren. Hier wird nämlich, da der Meeresboden ganz eben und sandig und der Wellenschlag sehr regelmäßig ist, fast täglich gebadet. Nur an ganz stürmischen Tagen, wenn das Landen der Boote auf der Badeinsel wegen der zu wilden Brandung unmöglich ist, wird ausnahmsweise auf einem Fleckchen von Helgoland selbst gebadet. Die Badezeit dauert von 6-2 Uhr mittags, und ist es im ganzen, wie ich auch schon gefunden habe, ziemlich einerlei, ob man bei Ebbe oder Flut badet. Der Wellenschlag ist in beiden Fällen ziemlich gleich stark; bei Ebbe ist sogar noch das Angenehme, daß man, um in tiefes Wasser zu kommen, nicht so weit vom Strand hinauslaufen muß. Die Badeplätze der Herren und Damen liegen an den entgegengesetzten Punkten der Sandinsel. Hier stehen je 30-50 Badekarren, in denen man sich auskleidet und dann ein Stückchen in die See hinausgeschoben wird, nebeneinander. Wenn man mit dem Baden fertig ist, wird der zweirädrige Karren wieder ans Land zurückgeschoben. Ich bin bis jetzt immer nur 2 bis höchstens 5 Minuten im Wasser geblieben, und habe dann vollständig genug. Anfangs beim Hineinsteigen empfinde ich immer einen sehr unangenehmen Frost, der aber nachher einer um so angenehmeren Wärme Platz macht. Einige Stunden nach dem Baden, gegen Mittag, spüre ich sogar am ganzen Körper, namentlich am Kopf, eine bedeutende Hitze. Mit welcher ungeheuren Wonne ich mich jedesmal in die brausenden, meist 3-4 Fuß hohen Standwellen stürze, kann ich Euch kaum beschreiben. Ihr selbst habt das Seebad so angenehm gefunden. Wie viel herrlicher muß es noch für mich Amphibium sein!

Nachdem ich am Freitag, 18. 8., ganz früh mich durch das erste Seebad erquickt, sammelte ich nun am Strande den ersten besten ausgeworfenen Seetang samt einer Menge herrlicher daran und dazwischen sitzenden Algenpflänzchen und Schmarotzertierchen, Krusten, Würmer, Weichtiere usw., um auf die erste schöne Bekanntschaft mit der See als Bad gleich die zweite mit den wunderbaren, mannigfaltigen und prachtvollen Bewohnern der See folgen zu lassen. Um zu vermeiden, daß ich dieselben Ausdrücke des höchsten Entzückens bei der Schilderung jedes Tagewerk wiederhole, bemerke ich in Hinsicht auf die Seetiere und Seepflanzen, wegen deren Studium ich doch hauptsächlich hierherging, ein für allemal, daß alle meine Erwartungen und Hoffnungen, von denen Ihr doch selbst wißt, wie hoch sie gespannt waren, nicht nur erfüllt, sondern auch noch weit übertroffen worden sind. Ich kann Euch das Entzücken und die Seligkeit, in welche mich das Beobachten und Bekanntwerden dieser herrlichen Seenatur mit ihren zahllosen Wundern täglich, nein! stündlich versetzt, gar nicht im geringsten deutlich zu machen versuchen. Nur das eine kann ich sagen, daß ich mit einem Schlage in eine ganz neue Welt, etwa wie auf einen andern Planeten versetzt bin. Es ist wirklich alles hier anders! Die Tiere, die Pflanzen, die Erde, das Wasser, die Luft, ja sogar die Menschen, alles ist für mich anziehend und merkwürdig. Kurz, ich sage Euch ein für allemal, daß ich in wissenschaftlicher Beziehung mit dieser ersten See-Expedition auf das vollkommenste zufrieden bin. Außer unsern ersten mikroskopischen und anatomischen, zoologischen und botanischen Studien besuchen Lavalette und ich auch gleich am ersten Tage die beiden oder vielmehr die drei Männer, an welche mir wegen der Sammlungen, Herbeischaffung von Tieren und Pflanzen usw. von Joh. Müller usw. empfohlen worden waren. Es ist das ein älterer Insulaner, welcher sich immer nur mit Sammlung von Seepflanzen und -tieren abgegeben hat und jetzt mein spezieller Freund und Gönner ist (oder umgekehrt), und zwei jüngere Fischer, Schiffer und Naturaliensammler, welche eine sehr schöne Sammlung von allerhand Seemerkwürdigkeiten besitzen: die beiden Gebrüder Öllrich Änkens. Diese drei bilden unser naturwissenschafliches Hilfskontingent, sind unsere dienstbaren Geister und Leibpagen und bringen uns jedem Tag geschleppt, was nur unser Herz begehrt: Seesterne, Krabben, Polypen usw. Mit den beiden Änkens gingen wir gleich selbigen Abend noch auf Fischfang, von 9-12 Uhr. Es war eine ganz finstere, sternlose und wildstürmische Nacht. Ich half abwechselnd mit der Laterne leuchten, das Netz heraufziehen usw., was mir sehr viel Spaß machte. Das Ganze machte sich sehr romantisch. Wir fingen bei dieser Gelegenheit eine Unmasse gewöhnlicher Krabben und einige merkwürdige Fische, namentlich Cottus scorpius , Aspidophorus cataphractus, Syngnathus Acus , Zoarces viviparus usw. Auch sahen wir einige phosphoreszierende Tierchen . . .

Am Sonnabend nachmittag empfing ich meine beiden Siebenbürger Freunde am Dampfschiff, welche ich schon in Hamburg getroffen und welche jetzt auf einen Tag herüberkamen, um sich die sehr merkwürdige Insel, welche auch wirklich schon an und für sich eines Besuches wert ist, auf einen Tag anzusehen. Mit ihnen, und mit ihrem Reisegefährten, einem Finanzrat aus Stuttgart, welcher auch Algen botanisierte, machte ich am Sonntag früh beim schönsten Wetter eine ganz reizende Fahrt um die Insel herum. Diese ist aber auch wirklich ein wunderbarer Bau! Ein ganz nackter kahler Felsen von rotem Sandstein steigt mehrere 100 Fuß hoch senkrecht aus der Meerefläche auf. Nur hie und da wächst etwas Grün, nämlich der gewöhnliche Gartenkohl (wild) auf der steilen Felswand. Dagegen ist der Rücken des Felsens oben ganz flach, mit Kartoffeln bebaut und trägt einen Leuchtturm sowie das eigentliche Fischerdorf, das sogenannte Oberland. (Ich wohne im Unterland, einem angespülten Sandhaufen der Südostküste, wo nur Wohnungen für Badegäste und Gasthäuser stehen.) Die Westküste des Felsens bietet herrliche Felspartien dar, Tore, Gewölbe, Mauern, Türme und andre Felsgestalten, alle durch die Arbeit der nagenden Meeresflut entstanden. Wir wußten im eigentlichen Sinne in unserm kleinen Schiffchen nicht, wo wir zuerst den Blick hinwenden sollten, ob auf diese grotesken, malerischen Felsgestalten, oder das prachtvoll blaue Meer und seine Horizontgrenze, oder die tobende, hoch aufspritzende Brandung am Fuß der Klippen, oder endlich auf die reizenden Wunder aus dem Tier- und Pflanzenreich, welche in unserer Nähe herumschwammen. Vor allem entzückten mich die Quallen oder Medusen, welche ich hier zuerst sah, große (1/2 - 1 Fuß im Durchmesser) Glasglocken von höchst wunderbarem Bau und Form. Daneben saßen an schwimmenden Tangen die kleinen Polypenkolonien fest, aus denen die Quallen entstehen. Das reizendste waren aber Schwärme kleiner Quallen mit langen Fangfäden, von denen Euch beifolgendes Bild (doppelte natürliche Größe) eine Idee geben soll. -

Am Sonntag nachmittag, 20. 8., machte ich mit dem Stuttgarter Finanzrat und den beiden Siebenbürgern einen Spaziergang längs des Strandes bei der niedrigsten Ebbe um die halbe Insel herum. (Bei ganz niedriger Ebbe soll man um die ganze Insel herumgehen können, weil dann der etwas breitere Fuß des Felsens zutage kömmt.) Ich fand die ersten Seesterne (schön violettblau), außerdem mehrere Seeschnecken und eine Seeanemone, ein ganz prächtiges Polypentier, so groß wie eine Rose (deshalb hier Seerose genannt) und von der Form einer Anemonenblume. Es war die merkwürdige Actinia holostica. Dann saßen auch auf den von der Flut entblösten Steinen ganz prächtige, rote, violette, braune und grüne Tangarten, über welche wir uns gar nicht satt freuen konnten. Kurz, wir waren ganz selig über den Reichtum der wunderbaren neuen Geschenke, mit welchen uns die alma mater natura hier wieder überraschte. Abends sah ich meine Freunde noch einmal und zwar in der hiesigen Volkskneipe "Zum grünen Wasser", wo die Helgoländer Einwohner ihre sonderbaren Nationaltänze aufführten und sich überhaupt den Fremden in ihrer ganzen Eigentümlichkeit zeigten. Über dieses merkwürdige Seevolk, das wirklich ganz allein schon wert ist, daß man um seinetwillen einmal herkömmt, schreibe ich euch ein andermal mehr; es ist noch ein ganz herrliches norddeutsches Kernvolk, trotzdem der Fremdenverkehr schon viel sogenannte Sitte (d. h. Unsitte) hier eingeschleppt hat. Am Montag früh fuhren meine Bekannten wieder ab. Ich machte mit la Valette und Änkens eine Bootfahrt nach dem Meere nördlich der Insel, wo wir einen Haifisch (Galeus canis) und mehrere Dorsche mit niedlichen kleinen Schmarotzerkrebschen im Maule angelten und mit dem eisernen Schleppnetz, welches auch zum Austernfang gebraucht wird, mehreremal große Stücke Meeresboden abkehrten und den Kehricht heraufbrachten. Da fanden sich denn die merkwürdigsten Algen (Cruoria , Laminaria, Phyllitis, Polysiphonien) mit allerliebsten Polypen (Flustra ) bewachsen usw. und sehr niedliche kleine Würmer mit prächtigen, bunten großen Federbüschen (Kiemen) am Kopf, welche in festen Kalkröhren leben und in diese sich ganz zurückziehen können ( Serpula triquetra sive tricuspis); auch viele andere kleine Seetierchen, besonders Kruster. Das schönste waren aber mehrere prächtige faustgroße Seeigel (Echinus esculentus), welche einen ganz prächtigen Anblick gewährten, wenn sie im Wasser mit ihren niedlichen kleinen Fußreihen herumspielten. Außerdem fischten wir auch mehrere der ganz allerliebsten kleinen Quallen, die ich schon am Sonntag kennengelernt. Ihr könnt es Euch leicht denken, daß wir mit diesen Schätzen sowie mit den am Sonntag gesammelten die folgenden Tage alle Hände voll zu tun hatten. Von Arbeiten will ich gar nicht reden; denn dazu ordentlich zu kommen, ist hier bei der Unmasse von Material, welche denjenigen, der das Meer und seine Wunder noch nicht kennt, von allen Seiten in der fabelhaftesten Ausdehnung überflutet und überwältigt, ganz unmöglich. Das einzige, was man tun kann, ist, die Sachen einmal kurz anzusehen, dann möglichst rasch von anhängendem Schmutz und Seewasser zu reinigen und dann sogleich in Spiritus zu setzen oder zwischen Löschpapier zu trocknen. Wie Ihr leicht denken könnt, ist das keineswegs ein sehr angenehmes oder süßes Mußestudium, wie ich mir mein hiesiges Leben überhaupt viel zu idyllisch ausgemalt, sondern es ist ein höchst ungemütliches und unruhiges Drängen und Treiben ohne bestimmte Zwecke und Ziele; die Masse erdrückt, erstickt einen im eigentlichen Sinne, so daß man nicht zu inniger, ruhiger, freudevoller Betrachtung der einzelnen Naturwunder, geschweige denn zu einem gründlichen durchdringenden Studium derselben, welches doch allein die wahre Befriedigung gewährt, gelangt. Von Zeichnen, Malen, Beschreiben, Zergliedern, Mikroskopieren usw. der einzelnen Tier- und Pflanzenformen, wie ich mir das anfangs so reizend und genußvoll vorgestellt, ist nicht die Rede. Kaum reicht die Zeit hin, die erworbenen Schätze zum Konservieren einzupacken, die Tiere in Spiritus, die Pflanzen in Löschpapier. Das Mikroskop kann eben dazu dienen, die kleinen Seewunder der Tier- und Pflanzenwelt flüchtig und rasch durchzumustern. Ich werde recht ordentlich froh sein, wenn ich erst wieder daheim sitzen kann und meine gesammelten Schätze recht mit Lust und Muße ansehen und studieren kann. Dabei wird man von dem ewigen Umlegen und Aufkleben der stinkenden, aber sehr schönen und merkwürdigen Seetange ganz kaputt. So habe ich mit diesem edlen Geschäft fast den ganzen Dienstag und Mittwoch zugebracht . . . Gestern früh brachte mir Tein Taten ein paar Pieren ( Arenicola Piscatorum), sehr interessante Kiemenwürmer und Sandhechte (Ammodytes Tobianus ), gestern Mittwoch, 23. 8. nachmittag, aber einen wahren Schatz, den er mir vom Austernfang verschafft, eine ganze Schüssel voll der herrlichsten Seesterne (Solaster papposus) von einer prachtvollen Purpurfarbe und 1/2 - 3/4 Fuß Durchmesser, dann die herrlichsten Polypen, Krebse, die in Muscheln wohnen, usw. usw.




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999