Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

42. Brief

Würzburg, 21. 12. 1853.

Liebe Vater!

. . . Außer vielen andern Arbeiten, die ich für die Weihnachtsfeier aufgespart hatte, werde ich auch das Anerbieten Kölliker benutzen, auf seinem Zimmer zu mikroskopieren, wobei man sehr viel Material bekömmt. So sind jetzt mehrere Engländer (junge Dr. med) hier, welche den ganzen Tag nichts tun als in Köllikers Zimmer auf der Anatomie sitzen und mikroskopische Anatomie studieren. Sie haben dabei den Vorteil, daß ihnen alles möglich Material, was sie irgend brauchen und wünschen, sofort direkt zu Gebote steht, und daß sie in allem und wo sie irgendwie zweifelhaft sind, Kölliker, als den größten Histologen, gleich um Rat und Auskunft fragen können. Wie Du denken kannst, beneide ich diese Leute schrecklich und wagte dies auch gegen Kölliker zu äußern, als ich vorigen Sonntag vormittag auf seinem Zimmer mit ihm mikroskopierte und ihm ein mikroskopisches Präparat (Querschnitt durch den Nervus opticus ) abzeichnete. Hierauf entgegnete er, daß mir diese Gelegenheit ja ebensogut geboten sei. Wenn ich nur Zeit hätte, sollte ich immer kommen. Freilich könne man diesen Zweig der Naturgeschichte (die Gewebelehre des Menschen und der Tiere) nur ex fundamento (wie eigentlich auch alle andern) inne bekommen, wenn man sich längere Zeit (etwa ein Semester) ganz ausschließlich und ununterbrochen damit beschäftige (wie es diese Engländer in der Tat auch tun). Ich habe nun dadurch den kühnen Gedanken bekommen, dieses freundliche Anerbieten anzunehmen und nicht nur nächste Weihnachts- und Osterferien, sondern auch den ganzen nächsten Sommer nichts als mikroskopische Anatomie zu treiben, höchstens dabei noch Chemie und die pathologische Anatomie bei Virchow (welche ebenfalls zum größten Teil mikroskopisch traktiert wird); wie gefällt Dir dieser Vorschlag? Ich würde es dann wenigstens in einem einzigen Fache zu etwas Ordentlichem bringen und jedenfalls, abgesehen von dem ungeheuren Vergnügen, den größten Nutzen davon haben. Ich glaube, daß grade das einer meiner Hauptfehler im Studienplan ist, daß ich mich mit zu vielerlei zugleich abgebe und alle möglichen Branchen gleich zusammen ganz erfassen möchte. Diesem Vorwurfe würde ich wenigstens in jenem Falle einmal entgehen. . . .

Ich gehe jetzt täglich um 8 Uhr früh von zu Haus fort und komme erst um 5 Uhr (und wenn ich Kurs bei Kölliker habe, gar erst um 8 Uhr abends) nach Hause, was mir, wenngleich ich mehr freie Stunden am Tage wünschte, doch auch ganz recht ist, da es mir zu Haus meist so schrecklich einsam vorkommt, ausgenommen bei meinem Schatz (d. i. mein göttliches Mikroskop) sitze oder Briefe an Euch schreibe. Die Abende verbringe ich mit Ausarbeiten des geistreichen Virchowschen Kollegs, welches mir aber lange nicht mehr so schwer wird wie anfangs. Wenn ich behaupten wollte, daß ich für den Stoff, alle die verschiedenen pathologischen Neubildungen, Geschwülste, Entartungen usw., irgendein Interesse hätte, so müßte ich dick lügen. Aber mit dem sensiblen Ekel davor macht es sich jetzt. Was soll man sich auch vor einem Geschwür, einer Eiterung usw. noch ekeln und verabscheuen, wenn man erfährt, daß diese schreckliche krankhafte Bildung doch nur einfach auf der Bildung und Vermehrung von Zellen in einem flüssigen Blastem beruht, was eigentlich eine höchst interessante Sache ist, wie das ganze Zellenleben. Ja, über die Zellentheorie geht nichts! Ich weiß nicht, was für eine sonderbare Anziehungskraft diese sonderbare Tatsache, daß die Zelle Ursprung und Konstituens aller organischen Körper ist, für mich speziell hat; aber es ist faktisch, ich betrachte dies wirklich als das größte Schöpfungswunder, über das ich mich gar nicht satt wundern und freuen kann. Eigentlich ist auch diese Zellengenese das, was alle Menschen am nächsten angeht, den wir alle, wie alle Pflanzen und Tiere, bestehen und entstehen ja nur aus Zellen. Das Ei ist ja nur eine einfache Zelle. Wie unbegreiflich stumpf und gleichgültig verhalten sich die meisten Menschen gegen diese wunderbare Tatsache, das Wunder aller Wunder. Für mich ist es das Anziehendste, was es gibt, und dem Studium und der Erforschung der Zelle möchte ich alle meine Kräfte widmen. Diese Neigung erscheint vielleicht allzu kühn, aber wenn ich mir nur in irgendeinem Punkte selbst vertrauen darf, so sagt mir ein geheimer dunkler Instinkt: "dies Feld ist das einzige, wo du es zu etwas bringen kannst!" Dieser Instinkt ist es, welcher mich von jeher so ungemein und extravagant zu den mikroskopischen Studien hinzog, welcher mir die Beschäftigung mit dem Mikroskop als das größte Glück und Vergnügen sein läßt. Und sonderbar, diese mikroskopische Anatomie, Gewebelehre, oder wie Du es sonst nennen willst, ist grade das, was die meisten Mediziner als eine lästige, schwere und unfruchtbare, wenngleich notige Disziplin verabscheuen und froh sind, wenn sie das Kolleg darüber los sind und in dem Kurs ungefähr gesehen haben, wie die Dingerchen aussehen. Und was das Sonderbarste ist, sie halten es für eine schwere Disziplin; das will mir aber nun erst gar nicht in den Sinn, denn mir erscheint es zugleich als die angenehmste und als die leichteste Sache. Ich weiß nicht, wie es kommt; aber ohne daß ich bis jetzt eigentlich mikroskopische Anatomie ordentlich geochst oder nur einmal Köllikers klassisches Buch durchgelesen hätte, weiß ich doch die Hauptsachen davon, als wären sie mir angeboren, als hätte ich sie im Kinderspiel relernt. Es ist sonderbar, aber wahr! Trotz meiner großen Ungeschicklichkeit, die mir auch hier beim feinen Präparieren oft sehr lästig wird, kommt mir doch im ganzen nichts leichter und lustiger vor als die Mikroskopie, während die andern darüber stöhnen und seufzen. Nein, über meine Zellen geht mir nichts! Halte diese Worte nicht für Eitelkeit oder Hochmut, lieber Vater! Wenn ich es mir in andern Stunden ruhig und kalt überlege, erscheint mir freilich diese ganze sanguinische Hoffnung, als Mikroskopiker (sei es nun der Pflanzen oder der Tiere; eher glaube ich noch letzteres) dereinst was leisten zu können, als törichte Vermessenheit. Denn wieviel der tüchtigsten Männer treiben dieses herrliche Fach! Verdanken doch Schwann, Schleiden, Kölliker, Virchow, Mohl, Schacht dieser köstlichsten aller Wissenschaften ihren ganzen Ruhm. Wieviel tüchtige Männer der jüngsten Epoche sind jetzt wieder an allen Orten mit der feinsten und sorgfältigsten Mikroskopie beschäftigt! Betrachte ich nur deren Leistungen, so sehe ich wohl bei ruhiger Überlegung ein, daß ich nie einen Platz neben ihnen würde gewinnen können; denn was wird so ein unselbstständiger, charakterloser und unbedeutender Schwächling, wie ich leider bin, der heut "himmelhoch jauchzt", morgen "zum Tode betrübt ist", was werde ich gegen und neben jener Anzahl ausgezeichneter sorgfältiger Forscher zuwege bringen! Sei dem, wie ihm will; jetzt will ich wenigstens den Rausch dieser Wonne ganz austrinken und mich in jeder Hinsicht in der Mikroskopie sattelfest machen. Ich will Euch wenigstens zeigen, daß ihr das herrliche, kostbare Mikroskop keinem geschenkt habt, der es nicht zu schätzen weiß. Mache ich damit auch keine neuen Entdeckungen, so gewährt es mir doch die seligsten Freudenstunden, Stunden, in denen ich mich ganz dem einen geliebten Objekte hingeben könnte!

Sehe ich mir nun morgen früh diese eben hingeworfenen Herzensergießungen an, so muß ich vielleicht wieder einsehen, daß eigentlich hinter all diesem Enthusiasmus für das Mikroskop und die Zelle nichts steckt als Lust und Freude an jener unermeßlichen und wunderbaren Welt des Kleinen, in der der große Schöpfer seine herrlichste Macht und Weisheit offenbart hat, eine Lust und Freude, wie sie am Ende jeder haben kann! - Nimm aber diese Worte für das, was sie sind, lieber Vater, für den Hauch einer vielleicht übertriebenen Begeisterung, welche mir von Zeit zu Zeit alle Glieder wie verzehrendes Feuer der Leidenschaft durchzieht, daß unwillkürlich meine Muskeln in tonische Kontraktionen geraten und ich in jauchzende Freudenrufe ausbreche, wie das z. B. der Fall vor ein paar Tagen war, als ich abends um 18 Uhr aus dem Kurs nach Hause kam, mit meinem Schieck einen sehr merkwürdigen, ganz durchsichtigen Hautbrustmuskel vom Frosch untersuchte und darin die schönsten Nervenendigungen (eins der subtilsten und feinsten Objekte) teil in Gestalt von Schlingen, teils feinen Spitzen fand. Ich war über dies Bild so entzückt, daß ich noch bis Mitternacht in der eiskalten Stube (wobei ich mich nebenbei noch etwas erkältete) mikroskopierte und zeichnete.

Solche herrlichen Augenblicke, worin ich die ganze edle Wissenschaft mit meinem ganze Sein und Wesen umfassen, in mich aufnehmen möchte, und wie sie mich jetzt öfter beglücken, sind wahre Sonnenblicke in meinem düstern Leben. Wie traurig und dunkel erscheint mir dagegen wieder am Tage das medizinische, praktische Treiben, die Behandlung der Menschen in den Kliniken usw., und wie sinkt mir da wieder aller und jeder Mut, und ich sehe mit nichts, als mit verzweifelten Aussichten, die Zukunft herannahen. Der einzige Trost ist dann der verrückte Gedanke, mich schlimmstenfalls mit meinem Mikroskop, das ich jetzt nicht mehr von der Seite lasse, in einen beliebigen Urwald von Guayana zurückzuziehen und dort nach Herzenslust Natur zu studieren. Vorige Woche machten mir z. B. mehrere Besuche in der Klinik und zufällig dabei stattfindende Vorgänge einen so heftigen und widerwärtigen Eindruck auf mein äußerst reizbares Nervensystem, daß ich mich ein paar Tage überhaupt unwohl fühlte und wirklich ernstliche Angst hatte, ich würde ein nervöses Fieber bekommen, was sich indes als überflüssige Hypochondrie herausgestellt hat. Und diese Kliniken und diese schreckliche spezielle Pathologie und Therapie sind es, die die meisten meiner Bekannten nächsten Sommer hören, und die ich eigentlich auch anfangen müßte. Wie glücklich wäre ich, könnte ich dafür ein Semester bei Kölliker ganz allein privatissime mikroskopieren. Mit dem letztern würden auch die Virchowschen Kollegien ganz harmonieren! Nein, noch einmal! Es geht mir doch nichts über die Zellentheorie und ihr Studium!

Vivat cellulae! Vivat Microscopia! - . . .

Lebe recht wohl, mein lieber Papa, nunmehr auch Großpapa, feire recht vergnügte und frohe Weihnachten mit den Lieben in Nr. 8 und vergiß dabei neben den Ziegenrücker Lieben auch nicht

Deinen Dich herzlich liebenden, alten Jungen

Ernst H.

Onkel, Dr. phil. et med. , Privatdozent der Mikroskopie.




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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999