Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

43. Brief

Würzburg, am Neujahrsabend 1853

Meine geliebten Eltern!

. . . Unter den vielen Herzenswünschen, die ich stets, ganz besonders aber am Anfange dieses Jahres für Euch und Euer Wohlergehen hege, ist wohl der innigste und einer der am tiefsten gefühlten derjenige, daß Ihr an Eurem Jungen noch rechte Freude erleben möget! Das könnt Ihr versichert sein, daß er seinerseits alles, was in seinen Kräften steht, aufbieten wird, um dieser Pflicht möglichst nachzukommen und Eurer noch recht würdig zu werden! Bis jetzt habe ich Euch freilich noch viel Sorge gemacht und blicke noch selbst mit ebensoviel Sorge in die Zukunft. Allein ich fühle doch, daß ich in der letzten Zeit wenigstens etwas an Mut und Gottvertrauen zugenommen habe, und das wird mir ja schon weiter helfen . . .

Das Titelbildchen dieses Briefes stellt Ernst Haeckel ungefähr so dar, wie er sich selbst vergangene Nacht in einem Traume - ob wirklich der wahren Zukunft? - erschienen ist. Ihr werdet Euch über den Wirrwarr und die sonderbare Komposition wohl nicht wenig wundern! Soviel ich daran ersehen kann, liegt die Medizin im Winkel, hinter dem Baum verborgen. "Des Lebens goldner Baum" ist und bleibt aber doch die Botanik! -

Er befindet sich gerade in dem klassischen Moment, indem er mit der rechten Hand und mit dem rechten Auge grade das zeichnet, was er im Mikroskop mit dem linken Auge (vor das er die Hand hält, um das Nebenlicht abzuschalten) sieht. Vor ihm auf dem Tische steht außerdem eine galvanische Batterie, Magnet, Pinzette, Deckgläser, chemische Reagenzgläser und dergl. naturwissenschaftlicher Hausrat mehr. Hinten links steht das Schreckbild der Zukunft, eine schwarze Schultafel mit einer ellenlangen mathematischen Formel, die noch auszurechnen ist. Im Vordergrund Berghaus' "Physikalischer Atlas", der überhaupt jetzt den ganzen Vordergrund von Ernst Haeckel selbst bildet! - . . .

Heute früh hörte ich wieder eine gute Predigt bei demselben alten Pfarrer, den ich schon am ersten Weihnachtsfeiertag gehört hatte. Er wandte den Text "Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir" auf die christliche und insbesondere protestantische Kirche, auf das Vaterland (unter der Voraussetzung, daß dieses Gott nicht verließe) und endlich auf die einzelnen christichen Brüder und Schwestern der Gemeinde an. Ich kann wohl sagen, daß dadurch wieder mancher erneute gute Vorsatz in mir weiter bestärkt und befestigt wurde, und ich in meinem festen Willen noch mehr beschloß, gewiß dieses Jahr mit mehr Charakterstärke und Gottvertrauen, wenn selbst unter noch ungünstigeren Verhältnissen als das vorige durchzuführen. Heute nachmittag machte ich, da es ganz außerordentlich mildes und warmes Maiwetter war, allein einen ziemlich großen Spaziergang. Ich ging über die Brücke und dann auf einen ziemlich hohen Berg, südwestlich von der Feste gelegen (nach Zell zu), von wo ich bei schönem Abendrot eine herrliche Aussicht über das Maintal genoß, und zwar über die Krümmung des Stroms, welche von der Stadt abwärts sich ganz westlich erstreckt und einen länglich- ovalen Talkessel bildet. Zu meiner Rechten lag hoch die Feste und weiter unten das Mainviertel, vor mir grade gegenüber ein bedeutender Höhenzug (auf dem rechten, jenseitigen Ufer), der an einer Stelle mit dunkelm Kiefernwald und einer alten Burgruine geziert war. Ganz links, wo der bedeutende Fabrikort Zell liegt, macht der Strom ein anmutige Krümmung wieder nach Norden und verliert sich dann in blauer Ferne (die mir immer das liebste ist, und die minutenlang sehnsüchtig ansehen muß) zwischen noch höheren Bergen. Die zwischenliegende Talsohle war schon ganz grün von junger Saat, wie auch die Bäume die schönsten Knospen haben und die Haselnüsse schon blühen. Es mochte ungefähr 8o R sein. Hätte man nicht ausdrücklich gewußt, daß es Neujahr wäre, so würde man eine April- oder Mailandschaft vor sich zu sehen geglaubt haben. Der Rasen ist überall schon ganz von Kotyledonen grün. Einen höchst anziehenden Eindruck machte die Ruhe, die über der ganzen Landschaft ausgebreitet lag und nur zuweilen durch das Läuten der Klosterglocken unterbrochen wurde. Was hier überhaupt zusammengeläutet wird, das glaubt Ihr gar nicht . . .

P. S. Indem ich Euch um Zusendung des Homer bat, hatte ich das griechische Original gemeint, das einen ganz andern Genuß gewährt als die Übersetzung. Indes lese ich ihn auch so einmal wieder ganz gern . . .

Herzlich Grüße an alle Freunde und Verwandte, die besten an Euch selbst, von Eurem alten

Ernst Haeckel.




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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999