Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

19. Brief

Würzburg, 27. 2. 1953 Sonntag abend.

Liebste Eltern!

Nachdem ich heute buchstäblich den ganzen Tag kaum vom Stuhl aufgestanden und nicht einmal zum Essen gegangen bin, weil ich bei Kölliker fast noch von der ganzen Woche Anatomie nachzuzeichnen hatte, soll es heute abend mein Sonntagsvergnügen sein, mit Euch ein bißchen zu plaudern, was mir doch immer die größte Freude ist. Viel wird's zwar nicht werden, weil mein Postpapier alle ist und der Brief sonst auf diesem dicken Papier zu schwer würde. Heute abend vor 8 Tagen war ich bei Professor Schenk; es war nur noch Steudner da. Anfangs amüsierten wir uns sehr gut, sprachen nur noch von Pflanzen und andern botanicis, schimpften auch über die Jesuiten usw. Allmählich kam aber ganz unversehens die Rede auf die Politik; und da hätte ich vor allem Dich, lieber Papa, herbeigewünscht, du hättest Deine Freude an Deinem Jungen erlebt! Ich hätte wirklich in meinem Leben nicht gedacht, daß solche patriotischen Talente in mir schlummerten! Schenk ist nämlich, so liebenswürdig und gescheut er sonst ist, in politischer Hinsicht gänzlich vernagelt; er vertritt vollkommen die absolutistische und undeutsche Richtung des österreichischen Kabinetts und behauptet, zu dieser Ansicht durch seine Reisen in den österreichischen Staaten gekommen zu sein. Natürlich war nun das erste, daß ein ganz fürchterliches Schimpfen auf Preußen los ging, auf sein perfides Benehmen gegen Deutschland, wie anno 1805, so auch jetzt; denn solche Redensarten, als z. B.: "der Olmützer Vertrag ist die einzige kluge und ehrenvolle Tat Preußens; natürlich auch Manteufel der einzige gute Minister, von dem noch zu hoffen ist, daß er etwas für Deutschland tut! Preußen hat von jeher nichts gewollt, als Deutschland zu unterdrücken; es hat mit der Revolution kokettiert; wenn das einig werden soll, so ist das erste, daß Preußen eine österreichische Provinz wird, so gut wie Ungarn, Siebenbürgen und die andern slavischen Staaten, welche alle in den Deutschen Bund aufgenommen werden müßten!! Österreich hat von jeder eine viel zu nachsichtige und milde, gutmütige und offne Politik gehabt; es hätte viel energischer und schlauer auftreten müssen! - Ferner: die Rheinlande seien ursprünglich bayrisches Eigentum und von den ländergierigen ungerechten Preußen halb mit Gewalt an sich gerissen! (Schenk ist selbst in Kleve geboren, wie er behauptet, als es noch bayrisch war, nebst dem Großherzogtum Berg usw.) und was dergleichen Unsinn mehr ist. Steudner und ich blieben natürlich keine Antwort schuldig, wir zankten uns tüchtig herum, rückten Bayern und Österreich alle seine Sünden vor, und ich fing zuletzt mit einer Hitze und Galle an zu räsonnieren, die meinem lieben, urpatriotischen Papa alle Ehre gemacht hätte. Zuletzt kam es soweit, daß ich aufsprang, mir die Ohren zuhielt und laut ein paarmal in der Stube auf und ab trappte, worüber die gute Frau Professorin höchlichst erschrak und mich gütlich zu beruhigen suchte; sie schlug sich zuletzt ins Mittel, verbot alle Politik und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, wobei es aber fast wieder zum Zank gekommen wäre; es wurden nämlich die Vorzüge Nord- und Süddeutschlands abgehandelt, und daß wir da natürlich unser nordisches Vaterland nicht im Stich ließen, könnte Ihr denken. Nachher plauderten wir aber noch recht nett und vergnügt bis gegen 1 Uhr. Als ich wegging, sagte ich noch Schenk, daß ich mich nun damit trösten könnte, daß die Botaniker, wie alle Naturwissenschaftler, je tüchtiger in ihrem Fach, deste erbärmlichere Politiker wären, worüber er sehr lachte und es zurückzuschieben versuchte, indem er den Satz auf mich anwenden wollte. Daß er mir übrigens meine norddeutschen Grobheiten nicht übelgenommen hat, kann ich daraus schließen, daß er mich am folgenden Tag sehr freundlich mit allerliebsten Moosen (Dubletten seines Herbariums) beschenkte, um meinen preußischen Patriotenzorn zu besänftigen, und noch zuletzt sagte: "Ich würde aber an ihrer Stelle die Moose nicht nehmen, sie kommen ja aus dem schlechten Bayern!" - Gestern hat er mir auch prachtvolle, ganz herrliche Pflanzen gezeigt, die der Botaniker Preiß in Neuholland gesammelt hatte. Die Dinger tragen alle einen höchst eigentümlichen Charakter, der ganz dem sonderbaren, wüsten, südlichen Charakter des Landes entspricht. Ein frisches Grün sucht man vergebens, alles ist graugrün oder ganz grau und meist mit langen, zottigen Haaren bedeckt, die Form ist aber ganz eigentümlich und barock. Die Blüten sind meist höchst intensiv und ganz prachtvoll gefärbt; der Charakter der ganzen Pflanze ist höchst gedrungen, stämmig und trocken (z. B. die ganz charakteristischen Proteazeen), überhaupt sind es meistens Pflanzen, die die Landschaft zu verschönern gar nicht geeignet, für sich aber prächtig sind. Ja, wenn man einmal da botanisieren könnte. - . . .

In den Kollegien ist jetzt hier schon die schöne Endzeit eingetreten, wo nach Möglichkeit gejagt und unmöglich alles eingeholt wird, was bei gehöriger Zeiteinteilung längst hätte abgemacht werden sollen. Kölliker hat seine Stunde verdoppelt und geht dabei so rasch, daß einem die Finger beim Nachschreiben lahm werden; so hat er z. B. jetzt die gesamte Gefäßlehre in 14 Tagen durchgenommen, so daß ich mit dem Ausarbeiten meines Heftes (das wirklich ein illustriertes Prachtwerk wird) gar nicht mehr nachkommen kann. Übrigens bleibt es immer noch höchst interessant. -

Heute haben hier zum letzten Male die Jesuiten gepredigt, und zwar unter einem solchen allgemeinen Schluchzen, Seufzen, in Ohnmacht fallen, Blumenstreuen, Kränzewinden usw., daß sie kaum ihr eignes Wort haben verstehen können. Schon stundenlang vorher ist der große Dom ganz überfüllt gewesen; das "Gedrängele" soll schrecklich gewesen sein. Gestern abend habe ich auch einen "Vater der Mission" noch einmal predigen hören, und zwar über einen sehr interessanten Punkt, nämlich die Heiligenverehrung in der katholischen Kirche; ich bin übrigens dadurch nichts weniger als damit ausgesöhnt worden. Das Haupträsonnement war ungefähr folgendes: Es gibt zwei Arten von Verehrung: eine bedingte und eine unbedingte. Letztere erweisen wir z. B. dem Könige, erstere sind wir seinen Freunden, Verwandten und Dienern schuldig. Ebenso ist es mit Gott, den wir allein absolut verehren sollen. Ebenso müssen wir aber auch relativ seine besten Freunde, welches eben die Heiligen sind, und vor allem die Mutter Gottes, Maria, die wirkliche Jungfrau und doch unser aller Mutter, verehren. -

Hieran schloß sich eine Parallele zwischen Eva und Maria (wonach jene das Vorbild, diese das vollendete und verwirklichte Ideal derselben sei) und dann eine weitläufige Auseinandersetzung des Marienkultus, wie man ihn treiben müsse, wie notwendig und heilsam derselbe sei, wie sie durch ihre Fürsprache alles bei Gott vermöge, und wie sie allein ganz uns in unserem Tun und Leben begleite, schütze, zur Reue und Besserung führe usw.

Ein Hauptmoment bildeten dabei rührende Bilder; z. B. wurde das Leiden Mariä ausgemalt, wie sie ihren einzigen Sohn Christus ermordet und doch schuldlos in ihren Armen halte, dann ihre Reinheit, Unbeflecktheit usw., wodurch viele wirklich zu Tränen gerührt wurden. Ich muß gestehen, daß ich mich jetzt noch weniger als vorher mit dem Marienkultus und dem Heiligendienst überhaupt befreunden kann. Einen sehr unangenehmen Eindruck machte auch ein gleichzeitiges Geplapper von mehreren tausend Stimmen, das grade im besten Gange war, als ich zur Kirche hereintrat; es ging ohne allen Ausdruck, wie Trommelschlag nach dem Takt, und war der sinnlose Lippendienst in seiner nackten Gestalt. Man wurde wirklich lebhaft an eine Judenschule erinnert oder auch an eine Klippschule, wo die Kinder buchstabieren lernen . . .

Mein Hauptgedanke ist aber jetzt im Schlafen wie im Wachen unser baldiges Wiedersehen, worauf sich herzlich freut Euer alter treuer Junge

Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999