Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

18. Brief

Würzburg, den 17. 2. 1853.

Innigstgeliebte Eltern!

Habt vor allen den herzlichsten, besten Dank für Eure Liebe, die mir stets eine Stütze und Ermunterung auf meinem Lebenswege ist, und mit der Ihr mich gestern wieder so erfreut habt. Die Beweise Deiner mütterlichen Fürsorge, liebste Mama, überraschten mich um so mehr, als ich durchaus nichts erwartet hatte und ordentlich erschrak, wie das Paket ankam. Ich erhielt es grade gestern früh, als ich zwischen zwei Kollegien anch Hause eilte, in der festen Erwartung, Briefe von Euch zu finden. Die Ausstattung meiner Speisekammer kommt mir trefflich zustatten, indem sie jetzt grade sehr auf den Hund gekommen war und nur noch aus einem Stückchen Weihnachtswurst von 3 Zentimeter Länge bestand. Das schöne Pflaumenmus sowie auch das letzte Stückchen Pfefferkuchen von Weihnachten war erst vorgestern alle geworden, nachdem es mir die trefflichsten Dienste geleistet hatte . . .

Meinen Geburtstag habe ich übrigens so still für mich verlebt wie alle andern Tage; es wußte auch keiner meiner Bekannten, sonst hätte ich wahrscheinlich kneipen müssen. Meine gute Wirtin, die sich gestern vergeblich den Kopf zerbrach, als sie die Anstalten sah, die ich traf (ich hatte nämlich meine Stube sehr hübsch aufgeräumt, meinen guten Rock, den ich sonst nur des Sonntags trage, angezogen, auch einem den grauen Hut aufgesetzt usw.), erriet es erst heute früh, daß mein Geburtstag gewesen war, als ich ihr die schönen Geschenke zeigte, die ich erhalten hatte. Sie war ordentlich ungehalten, daß ich es ihr nicht gesagt hatte und sagte, sie müßte ihn nun noch nachfeiern; hätte sie das gewußt, so hätte sie "Krumpiern in der Schole" (Grundbirnen, Kartoffeln) gekocht, was sie als mein Lieblingsgericht kennt. Es ist überhaupt eine seelensgute Frau, die wahrhaft mütterlich für mich sorgt . . .

Von Finsterbusch erhielt ich heute früh einen sehr herzlichen Brief, ebenso heute nachmittag von Weber, Weiß und Hetzer. Weiß schreibt mir nur ganz kurz; er ist sehr betrübt über den Tod seines Onkels. Was Du mir über Leben und Charakter des letzteren schreibst, lieber Vater, ist vollkommen richtig. Ich finde alle diese Seiten im kleinen in seinem Neffen, meinem Freunde wieder. Auch bei ihm liegt unter einer starren und oft abstoßenden Hülle ein sehr gutes und liebes Herz und ein ebenso streng sittlicher Charakter verborgen. Es ist dies wirklich, als wäre es in der Familie so erblich. Weber hofft noch immer, im Sommer mit mir nach Jena zu gehen; jedoch muß ich gestehen, daß ich für Herrn Schleiden, obwohl er ein tüchtiges Genie und ganz eigentümlich ist, doch nicht so blind begeistert bin wie früher; er ist doch schrecklich einseitig, absprechend und vor allem sehr negativ. Dagegen hätte ich unter Umständen nicht übel Lust, doch noch den Sommer hier totzuschlagen und den klassischen mikroskopischen Kurs bei Kölliker hier durchzumachen, namentlich wenn ich Assistent bei Schenk würde, was sehr leicht möglich ist, und was er mir nächstens wohl anbieten wird. Jedoch werde ich dies wegen meines Fußes nicht annehmen können . . .

Hier fällt nicht viel Neues vor, außer daß täglich im Durchschnitt 1/2 Dutzend Duelle vorkommen, die jedoch meistens ziemlich unblutig enden. Meistens gehen diese Paukereien von den verschiedenen Korps aus; das schlimmste dabei ist, daß sie viel schöne Zeit und Geld kosten und nichts als zerfetzte Gesichter einbringen. Vorige Woche haben auch zwei meiner Bekannten, sehr nette Leute, kurz nacheinander ein Duell mit einem und demselben unverschämten Judenjungen aus Frankfurt/Main, einem ekelhaften, frechen Menschen, gehabt und ihm dabei sein Judengesicht tüchtig verhauen, ohne selbst etwas abzukriegen. Der Jude hat übrigens schon wieder kontrahiert. Zum großen Teil mag dieser edle Paukereifer auch nur Opposition gegen die ungeheure, wahrhaft schauderhafte Frömmigkeit sein, die sich hier jetzt überall breitmacht und alle Straßen erfüllt. Seit vorigen Sonntag predigt hier nämlich eine "Mission der heiligen Väter", bestehend aus sechs Mann societatis Jesu, worunter sich auch der künftige General der Jesuiten, ein höchst beredter, schlauer und kenntnisreicher Fuchs, der in sieben Sprachen predigt, befindet. Der Zudrang ist so ungeheuer zu diesen Jesuitenpredigten, daß die beiden größten von den unzähligen Kirchen der Stadt, in denen sie predigen, den ganzen Tag buchstäblich nicht leer werden, während die andern Kirchen ganz verwaist sind. Schon stundenlang vorher, ehe die Predigt angeht, ist der ungeheure Dom so gefüllt, daß die Leute bis auf die Straße hinaus stehen. Vom Lande werden die einzelnen Gemeinden förmlich durch bischöfliche Sendschreiben hereinkommandiert und müssen nolens volens wenigstens drei Predigten hören. Da ist denn das ganze Nest so überfüllt, daß ein ewiges Gesumme und Gebrumme der zahllosen Menschen, die meilenweit hergekommen, die Straßen den ganzen Tag erfüllt und belegt. Das beste sind dabei die wirlich äußerst eigentümlichen und barocken Volkstrachten aus den verschiedenen Kreisen und Distrikten, die man so zu sehen bekommt. Namentlich zeichnen sich die Bauernweiber, deren Tracht an die der Altenburgerinnen erinnert, durch eine fabelhafte Geschmacklosigkeit und grelle Buntheit des Putzes aus, mit dem sie überladen sind und paradieren. Namentlich Rot und Gelb ist überall in den schauerlichsten Kombinationen. Die Jesuiten predigen täglich wenigstens sechsmal, und viele Leute kommen den ganzen Tag nicht aus der Kirche. Auch halten sie besondere Standespredigten, z. B. für Kinder, Gymnasiasten, Handwerker, Eheleute; nächstens wird auch eine für Studenten kommen, auf die ich sehr gespannt bin. Ich habe gleich am Sonntag abend die dritte gehört, die sie hielten. Der Prediger war ein junger, hübscher Mann, der mit viel Beredsamkeit, Feuer und Ausdruck sprach; namentlich interessierte mich sehr die eigentümliche Logik, welche das Gerüste der ganzen Predigt ausmachte. Zuerst erklärte er als "gut" das, was seinem Zweck entspreche. Der Mensch sei von Gott bestimmt, gut zu sein, und darauf wolle die Mission hinarbeiten, den Menschen zu dieser seiner Bestimmung hinzuführen. Dann kam er auf Gott zu sprechen, suchte dessen Existenz und Wesen nachzuweisen und stellte seine Gnade und Güte mit unserer Sünde in Gegensatz, wobei er zuletzt ganz in Feuer kam und zur Buße in den heftigsten Ausdrücken ermahnte. Obgleich ein gründliches und geistreiches Studium der Philosophie und namentlich der Logik in der ganzen Durchführung nicht zu verkennen war, so fehlten doch auch zahlreiche Sprünge und Trugschlüsse nicht. Im ganzen konnte ich gegen die Predigt auch nicht das geringste sagen; obwohl ich sehr aufpaßte und mir alle Mühe gab, etwas Anstößiges zu finden. Dafür war es aber auch eine der ersten, in denen sie die schlaue Politik verfolgen, erst ganz allgemein allen plausible Sachen vorzutragen und erst allmählich immer weiter und spezieller in ihre Lehre eingehen. So habe ich schon jetzt gehört, daß sie wirklich arges Zeug vorbringen sollen. So eifern sie gegen die Naturforschung (und alle andere Aufklärung natürlich auch) und sollen namentlich mit dem höllischen Feuer immer bei der Hand sein. So soll gestern einer ihrer die Hölle als einen achteckigen Pfuhl dargestellt haben, wo aus allen Ecken und Enden höllische Qual und Spuk hervorkämen, und dies ganz genau ausgemalt haben. Dann hat er auf einmal geschrien, er wüßte es wohl, es wären unter seinen Zuhörern und Zuhörerinen, welche zu den ärgsten Teufeln gehörten. Da ist denn allgemeines Schluchzen und Seufzen unter den zahllosen Weibspersonen ausgebrochen, weil jede geglaubt hat, sie sei es. -

Am meisten Vorteil verspricht sich von der ganzen Geschichte die psychiatrische Klinik, und da die heiligen Väter 14 Tage so fortwirken werden, und es je länger, je ärger machen, so ist allerdings alle Aussicht vorhanden, daß sich die Irrenabteilung des Hospitals ansehnlich bereichern wird.

Die Predigt, die ich hörte, war übrigens für den Plebs, welche doch die Hauptmasse bildete (obgleich alle Stände äußerst zahlreich vertreten sind) viel zu hoch, in viel zu philosophischer Weise und Ausdruck abgefaßt, enthielt schon viel zu viel unverständliche Fremdwörter, als daß sie nur halb hätte verstanden werden können. Grade hierin liegt aber auch zum Teil der Effekt, indem der Pöbel die erhabne Sprache, die er nicht versteht, bewundert, sich durch rhetorische Kusntgriffe und vor allem durch die äußerst lebhafte, fast theatralische Aktion hinreißen läßt. Nächsten Sonntag werden hier überall Missionskreuze errichtet werden, worauf ich auch sehr neugierig bin. Mit dem Hauptthema jener Predigt, worin er die Existenz Gottes mathematisch zu beweisen suchte, war ich übrigens eigentlich nicht einverstanden, indem ich hier ganz dieselbe Überzeugung habe, die Du, lieber Vater, mir auch aussprichst, daß sich dies eben nicht mit unserem beschränkten menschlichen Verstande begreifen läßt, sondern daß dazu unbedingt der Glaube gehört. In dieser Beziehung hörte ich auch am Sonntag eine sehr schöne Predigt von dem protestantischen Kirchenrate; der Text war: "Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden usw." So habe ich mir denn auch an meinem Geburtstag recht fest vorgenommen, immer mehr den neuen Menschen anzuziehen und im Glauben zu wachsen und zuzunehmen. Die äußere Feier meines Geburtstages habe ich diesmal für mich allein in aller Stille abgemacht. Sie bestand allein darin, daß ich zu Mittag mich einmal ordentlich und gut satt aß und dazu einen Schoppen Wein (den ersten in diesem Jahre und wahrscheinlich auch den letzten, wenigstens hier) trank. Nachmittags machte ich mit Schenk und Steudner bei dem herrlichsten, klarsten Wetter eine Exkursion oder vielmehr einen Spaziergang, da die Phanerogamen noch gar nicht blüten und nur hie und da eine zarte Moosblüte unter dem Schnee hervorguckte. Als wir an dem eigentlichen Ziele, dem 3/4 Stunden entfernten Guttenberger Wald (hier dem nächsten!), angelangt waren, mußte ich jedoch wieder allein umkehren, da es mir zu weit wurde und mich namentlich das Bergsteigen etwas anstrengte. Übrigens ist mir der Spaziergang, wie überhaupt nach dem vielen Stubensitzen, so auch meinem Knie ganz gut bekommen. Abends schwelgte ich einmal wieder in Poesie und Berghaus und habe wieder einmal eines meiner Lieblingsgedichte: "Herrmann und Dorothea" gelesen. Dann schrieb ich noch spät an Tante Berta und habe dann Gott noch recht innig gedankt, daß er mich mit so lieben, guten Eltern, Verwandten und Freunden beschenkt hat . . .

Es umarmt Euch mit der innigsten Liebe

Euer alter Ernst H.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999