Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

20. Brief

Würzburg, 10. 3. 1853.

Liebste Eltern

Der Mensch ist eigentlich doch nichts "als ein zweibeiniger, ausgerupfter Hahn" (wie Plato sagt; ich dächte wenigstens), der in allen seinem Tun und Denken sich nach dem Wetter richtet. Wenigstens ist das jetzt bei mir so der Fall. Seit meinem Geburtstag war der Winter bei uns eingekehrt; wir hatten Kälte, ellenhohen Schnee usw. wie Ihr in Berlin. In dieser Periode habe ich denn riesig geochst, ich habe gesessen und geochst, daß ich selbst zuletzt kaum begriff, wie ich's aushielt und dachte ich würde ganz versessen werden. Seit drei Tagen haben wir nun gründliches Tauwetter und heute so einen schönen, sonnigen Frühlingstag, wie man ihn sich nur wünschen kann. Aller Schnee ist zu Wasser geworden, zugleich aber auch alle Geduld, alles Sitzfleisch, alle Arbeit und wie diese löblichen Tugenden alle weiter heißen. Das alte Quecksilber jagt wieder einmal durch alle Adern, so daß ich trotz aller Anstrengung kaum so viel Ruhe und Gedanken sammeln kann, um nur halbvernünftig an Euch zu schreiben. Letzeres ist auch wohl kaum mehr nötig, da ja nun doch mit nächster Zukunft wieder der heißersehnte und vielgehoffte Zeitpunkt eintritt, wo ich Euch, meine geliebten Eltern, in meine Arme schließen kann. Ich möchte auch wohl recht haben, wenn ich der schrecklichen Ungeduld, mit der ich das Wiedersehen hoffe und mir ausmale, einzig und allein meine kollossale Unstetheit, Unruhe usw. zuschreibe. Wenn ich mich frage, warum ich denn auf einmal so "unwirsch" geworden, so ist's doch weiter nichts als die alte Liebe und Sehnsucht nach dem Elternhaus und die Wanderliebe (oder wenn's nicht Wanderlust sein kann - leider!, wenigstens Reiselust), die mir durch alle Glieder zieht und alles Sitzen zu Hause und im Kolleg verleidet. Das Schlimmste ist nur, daß Kölliker nicht nur diese, sondern auch wohl noch die ganze nächste Woche lesen wird, und ich denn doch nicht gut anders kann, als geduldig abwarten, bis er zu schließen geruht. Die andern haben alle geschlossen; überdies ist das Kapitel, was K. jetzt durchnimmt, die topographische Schilderung der peripherischen Nervenausbreitung, zugleich so schrecklich schwer und langstielig und er geht so fabelhaft rasch, daß man (wenigstens ich) kaum nachdenken und nachzeichnen (geschweige nachschreiben) kann. Es dürfte daher auch keineswegs wundernehmen und ich möchte keinem Menschen dafür sthen, wenn Ernst Haeckel eines schönen Morgens sich aufsetzte und dem schönen Würzburg (vielleicht für immer) ebenso wie aller Medizin ade sagte. Nun mußt Du Dich nur nicht wundern, Mamachen, wenn Ende nächster Woche eine lange, dürre (vielleicht ausgehungerte!) Latte mit struppigen blonden oder vielmehr gelbbraunen Haaren und ebensolchem Bart (sowohl Schnurr- als Backenbart, letzterer jedoch erst 3-4 Linien lang) und eine lange Pfeife im Munde (das Rauchen mußte ja doch früher oder später kommen, namentlich da Ihr mich partout zum Mediziner stempeln wollt!) bei Euch eintritt und sich für Euren Jungen ausgibt; erschrick nur nicht! - Mit der Zeit wirst Du ihn doch bald wiedererkennen, wenigstens an seinem menschenfreundlichen, feinsittigen Benehmen, das noch immer das alte geblieben ist (wie denn überhaupt der ganze Junge, mit Ausnahme des neuen Barts und der Tabakspfeife, noch der alte ist!) Und Du, lieber Papa, darfst mir wieder meine große, angestammte Stube ausräumen (falls Du sie nämlich bewohnt hast), denn ein schöner Heuschober von 1 Fuß Durchmesser kommt wieder mit und wird ein angenehmer Zuwachs für meine vereinsamte Scheune sein. Da wird denn wieder der große Tisch aufgepflanzt und im Heu geschwelgt, daß es eine Lust ist! - . . .

Doch ich muß schließen, da mein letztes Stückchen Postpapier zu Ende geht (das ich noch in einer Ecke zufällig aufgetrieben), ebenso wie zu Ende gegangen ist mein Öl, meine Butter, mein Siegellack, mein anatomisches Heft, vor allem aber meine Geduld! Ein recht, recht frohes und schönes Wiedersehen. Zum letztenmal umarmt Euch schriftlich Euer alter

Ernst.




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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999