Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 10. 3. 1860

Brief Nr. 68

Nun können wir schon bald die Tage zu zählen anfangen, mein lieber, lieber Herzensschatz, die noch verstreichen müssen, ehe uns das seligste Wiedersehensglück vereint. Außer diesem wirst du nun aus Messina nur noch zwei Briefe von mir bekommen, da ich meinen auf den 1. April (Palmsonntag) festgesetzten Abreisetermin beizuhalten gedenke. Seit mich diese Gedanken beschäftigen, ist es mir der gewöhnlichen Arbeitsruhe und Sitzausdauer ganz vorbei und ich träume von nichts als Wiedersehen und schaue sehnsuchtsvoll nach Norden auf die blaue Fläche, die mich nun bald wieder meinem Liebsten auf der Welt zuführen soll. Wären die letzten 8 Tage nicht wieder so reich an Entdeckungen gewesen, so hätte ich kaum noch die Geduld gehabt, die Arbeit weiter zu führen. Glücklicherweise war sie aber äußerst lohnend und gestern, am 9. 3., war der Glückstag, der die ersehnte Hekatombe der Radiolarien nicht nur voll machte, sondern, indem ich nicht weniger als drei Tierchen, darunter zwei neue Gattungen entdeckte, die Zahl der neuentdeckten Arten auf 101 gebracht hat! Du kannst Dir meinen Jubel denken und teilst gewiß mit mir die unbändige Freude. Muß Dir doch auch der Gedanke wohl kommen, wie diese Glücksfunde, abgesehen von dem wissenschaftlichen unaussprechlichen Genuß und der riesigen Freude, die sie mir an sich bringen, auch mächtig für unsere Zukunft arbeiten und uns dem heißersehnten Ziel aller unserer innigsten Wünsche näher führen helfen. Ich bin nur neugierig, was Du zu meinen allerniedlichsten und formenschönen Kieseltierchen für ein Gesicht machen wirst!

Die Resultate des letzten Arbeitsmonats sind übrigens so überraschend reichlich und so noch ganz unvermutet lohnend ausgefallen, daß ich bei weiterem Forschen gewiß noch auf sehr viel glücklichere Ausbeute rechnen dürfte und, wenn du mich nicht mit gar zu mächtigen Sehnsuchtsbanden heimzögest, mich nicht bedenken würde, meinen Aufenthalt hier zu verländern. Denn diese außerordentlich glückliche Gelegenheit kehrt nie wieder, und was auch später einmal Gegenstand meiner Untersuchungen werden sollte, nie werde ich ein Objekt finden, welches mir soviel Freude machen und grade meinen speziellen Lieblingsneigungen so entsprechen wird. Könnte ich noch ein paar Monate hier fortarbeiten, so würde ich vielleicht die Zahl der neuen Entdeckungen noch auf 150 und mehr bringen können, wo zu vermuten ist, daß die Radiolarien wegen des größeren Reichtums des Meeres an aufgelöster Kieselsäure noch eine größere Formenmannigfaltigkeit entwickeln werden. Daß dies nun nicht geschieht und die Welt um diese schönen Funde ärmer bleibt, daran bist Du schuld, kleiner Strick . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 9. August 1999