Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 15. 12. 1859

Brief Nr. 56

Lieber Vater

. . . Jetzt, da ich sehe, daß ich gut mit den Finanzen auskomme und im ganzen doch noch weniger verbraucht habe und verbrauchen werde, als ich vorher berechnet hatte, kann ich Dir auch eine größere Ausgabe gestehen, die ich Dir bisher immer verschwiegen hatte, weil ich glaubte, daß Du sie für überflüssig halten und bös darüber werden würdest. Nun sie aber durch sorgfältige Sparsamkeit bereits wieder gedeckt ist und mir überdem noch die trefflichsten Vorteile gebracht hat, kann ich sie Dir schon gestehen. Ich habe mir nämlich auf der Durchreise in Florenz ein Mikroskop von dem berühmten Professor Amici für 250 Frank (ungefähr 70 Gulden) gekauft, ein ebensolches, wie auch Professor Ehrenberg von seiner letzten italienischen Reise mitgebracht hatte. Es ist dies ein sogenanntes "Immersionsinstrument", wie sie bisher nur dieser ausgezeichnete Optiker anfertigen konnte. Die mechanische Arbeit, Schrauben usw., wie ganze Einrichtung sind sehr unpraktisch, roh und mangelhaft, die Linsen aber - die Hauptsache - ganz ausgezeichnet. Die stärkste Objektivlinse ist aber nur brauchbar, wenn sie in Wasser getaucht ist und ohne einen Luftzwichenraum direkt mit dem zu untersuchenden Objekt in Verbindung steht. Von dieser Einrichtung rührt auch der Name dieser Eintauchmikroskope her. Das Arbeiten ist sehr unbequem, und das zutretende Licht, welches nicht wie gewöhnlich durch einen Konkavspiegel, sondern durch ein sphärisches Prisma gesammelt wird, ist nur sparsam zugemessen. Allein alle diese Nachteile werden bei weitem aufgewogen durch die außerordentlich starke Vergrößerung, welche mittelst derselben möglich udn welche für gewisse Objekte allerfeinster Art von unschätzbarem Wert ist. Während die gewöhnliche Linearvergrößerung, welche die besten Mikroskope, auch mein großer Schiek, gewähren, nur bis zu 300-400 höchstens 500 steigen darf, wenn sie noch wissenschaftlich brauchbar sein soll, gewährt dieses merkwürdige Amicische Instrument noch bei der stärksten Vergrößerung - 1000 Linear! - ein vollkommen klares, scharfes und sicheres Bild. Also fast noch um das Doppelte vergrößert! Nun sind allerdings die meisten Objekte, die gewöhnlich untersucht werden, derart, daß man mit 300maliger Vergrößerung ziemlich ausreicht, wenigstens auch bei stärkerer Vergrößerung bisher nicht weiter damit gekommen ist. Dagegen gibt es auch große Klassen von Gegenständen, bei denen eine stärkere Vergrößerung äußerst wünschenswert ist und bei denen man mittelst derselben hoffen darf, noch ein gut Stück weiter damit zu kommen.

Ein glücklicher Zufall hat mir nun aber grade für meine hiesigen Arbeiten, welche letztererArt sind, jenes starke Instrument in die Hände geführt, von dem ich damals, als ich es in Florenz kaufte, nicht ahnte, wie trefflich es mir hier würde zustatten kommen. Ich habe jetzt mittelst desselben schon ein paar recht interessante Naturverhältnisse von Infusorien von äußerster Feinheit entdeckt, und ich hoffe, noch manchen hübschen Fund damit zu machen. Meine Hauptarbeit, in der ich jetzt so recht mittendrin und im besten Gange bin und die mir außerordentliche Freude macht, betrifft die radiären Rhizopoden, eine Tierklasse, die erst vor wenig Jahren durch Ehrenberg (in ihren Kieselschalen) entdeckt und dann durch Johannes Müller lebend beobachtet ist. Diese höchst merkwürdigen und interessanten Geschöpfe stehen auf der untersten Stufe und an der Grenze tierischen Lebens und sind schon deshalb des sorgfältigen Studiums wert. Es sind fast allemikroskopisch kleine Gallertklümpchen, welche auf der Meeresoberfläche schwimmen, die allermeisten mit einem wunderschönen, glashellen Kieselpanzer von der allerzierlichsten Struktur bedeckt. Meist erscheint dieser als feines Gitter in Form einer Kugell, einer Glocke, eines Helms, Sterns usw. Bisher wurden hauptsächlich nur die reizenden, durch Schönheit und unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Gestaltungen äußerst anziehenden Formen dieser Kieselpanzer beschrieben, teils in Ehrenbergs großer Mikrogeologie, teils in Johannes Müllers letztem Opus posthumum. Auf letzterem, welches hier mein alltägliches Evangelium ist, baue ich nun weiter und suche insbesondere die feinere Zusammensetzung des von dem Kieselpanzer umschlossenen Gallertklümpchens (wovon meist wohl 100 oder 1000 auf einen einzigen Wassertropfen gehen!) herauszubringen. Schon habe ich einige Fortschritte darin angebahnt und hoffe noch ein gutes Stück weiterzukommen. Außerdem habe ich auch bereits einige neue Gattungen und Arten entdeckt (das meiste in den letzten Tagen), und zwar so überaus schöne und merkwürdige, daß ich vor Freude und Entzücken mcih gar nicht zu fassen wußte und mir nichts leid tat, als ich Euch, meine zoologischen Freunde, hier zu haben, um meine Glückseligkeit zu teilen. Ein so herrlicher Fund ist eine Freude, der kaum eine andere an die Seite zu stellen ist, die aber auch nur ein Naturforscher in ihrem ganzen Umfange begreifen und empfinden kann. Du kannst Dir denken, wie mich das zu weiterer Arbeit anspornt, und ich arbeite denn auch jetzt mit einer Lust und stetigen Freude, wie noch nie. Immer sind mir die kurzen Tage viel zu rasch um, und mit Sehnsucht sehe ich abends dem Morgen entgegen, der mich wieder an mein geliebtes Mikroskop führt, das mir in jedem Tropfen Seewasser Hunderte und Tausende der herrlichsten Schöpfungswunder zuführt. Daß dies spezielle Feld noch dazu so neu und so wenig bekannt ist, erhöht natürlich den Reiz bedeutend, und ein nicht minderer Reiz liegt darin, daß es eben die Grenzen der tierischen Schöpfung wie andererseits auch die Schranken unserer Hilfsmittel berührt, die sich hier wirklich erschöpfen. Wenn Du Ehrenberg einmal siehst, lieber Vater, so empfiehl mich ihm bestens und sage ihm, daß seine schönen Polycystinen, besonders Haliomma und Spongosphaera mir hier täglich lebend unter die Augen kämen und mich viel beschäftigten. -

Du schreibst mir von Eurem Wunsch, daß ich bereits nächsten Frühling mich in Berlin habilitieren und im Sommer lesen soll. Das ist aber rein unmöglich! Abgesehen davon, daß ich erst kurz vor Beginn des Sommersemesters zurückkehre (Ende März oder Anfang April) und also schon aus äußeren Gründen (wegen der offiziellen Schreibereien usw.) die Habilitation dann nicht mehr möglich ist, wäre ich auch gar nicht gerüstet und nicht instruiert, was ich am besten läse. Ihr legt viel zu großen Wert auf frühzeitige Habilitation. Viel wichtiger ist es, auch für mein Fortkommen und für Erlangung einer Professur, daß ich erst einige tüchtige Arbeiten liefere. Das Habilitieren an sich hilft aber dazu gar nichts. Zu einer größeren Arbeit sammle ich hier das schönste Material und hoffe sie soll gut ausfallen. Dazu brauche ich dann aber nach meiner Rückkehr noch ein hübsch Stück Zeit, schon wegen der nötigen Literaturstudien, und dann für die Ausarbeitung und für die Ausführung des Detail. Der künftige Sommer wird kaum dazu ausreichen, und frühestens könnte ich also meine ersten Vorlesungen im nächsten Winter halten; dann fragt es sich aber noch sehr, ob in Berlin, und ob nicht besser auf einer kleineren Universität. Jetzt sich bereits den Kopf darüber zu zerbrechen, wäre sehr unnütz . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999