Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 10. 12. 1859

Brief Nr. 55

. . . Mit der Arbeit geht es in der gewohnten Weise von früh bis spät fort, und das herrliche Material fließt mir immer gleich reichlich. Bestellī mir nur bei Deiner Fortuna noch ein paar hübsche Entdeckungen! Freilich, man wir immer ungenügsamer, je mehr man findet, deste mehr möchte man immer noch dazu entdecken! Am letzten Sonntag hab ich dann auch einmal an Dich und Allmers gedacht und bin aus meinem Käfig herausgesprungen. Freilich warīs eigentlich mehr das wunderherrliche Frühlingswetter, das mir durch alle Adern zuckte, alle Muskeln spannte, den entschlummerten Wandergeist weckte und mich, trotzdem ich noch genug schöne Tierchen in meinen Gläsern hatte, gewaltsam hinaustrieb. Ich machte denn auch eine Bergwanderung so recht nach meiner Art, daß die Messineser Deutschen, denen ich davon erzählte, vor Verwunderung nichts zu sagen wußten. Beim Fort Gonzaga, welches die ganze Stadt beherrscht und die wundervollste Aussicht gewährt, stieg ich um12 Uhr mittag hinauf, dann dahinter den Berg hinauf, immer höher und höher durch Schluchten und Täler, bergauf, bergab, bis ich zuletzt auf den Rücken der Gebirgskette kam, die Messina im Westen umzieht. Ganz unverhofft wurde ich durch den Anblick der Nordküste und der Liparischen Inseln überrascht, die ich seit dem 13. 9. nicht gesehen hatte. Ich sah den Schaum der anschlagenden Wellen an dem sandigen Ufer, und das weckte meine Sehnsucht nach dem nordischen Strand so heftig, daß ich hätte über das Meer wegspringen mögen. Ich öffnete meine Brust und ließ den frischen, grüßenden Nordwind so recht lustig und frei hindurchwehen. Dann sprang ich ihm entgegen und nun in meinem bekannten Nibelungenschritt weiter, immer auf dem Rücken der Hügelkette hin, fasst immer trabend oder galoppierend, die Anhöhe jubelnd erstürmend und nur dann und wann ein Momentchen ruhend, auf einem der höchsten Punkte der Nordostküste Siziliens, von wo ich den allerherrlichsten Blick auf beide Meere hatte. Ich trug den Wellen so viel Grüße auf, daß sie Dich gewiß getroffen haben müssen, wenn die Spreewellen, die den Gruß durch die Elbe empfingen, es nicht vergessen haben. Nun war es aber spät, 5 Uhr abends, und ich mußte jagen; in das Tal halb hinabstürzen, um vor völliger Dunkelheit noch auf gebahnte Straße zu kommen. Doch lief ich den viel kürzeren Rückweg von diesem Punkt (einen Hügel jenseits des Telegraphen) so rasch, daß ich bereits bald nach 6 Uhr in wieder Messina war. Das war eine herrliche Tour! Ich habī sie aber auch noch 3 Tage nachher in allen Gliedern gefühlt! - . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999