Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 16. 12. 1859

Brief Nr. 57

. . . Nicht einmal eine nette Weihnachtsfreude kann ich Dir machen, mein süßes Liebchen, was ich so gern täte! Wie gern schickte ich Dir, wenn es möglich wäre, ein paar meiner besten Aquarelle, um Dich noch lebhafter in die reizende Natur des farbenreichen Siziliens hineinzuzaubern, als es durch meine Feder allein geschehen kann. Eine Freude kann ich Dir aber doch machen, und das vielleicht keine ganz verächtliche, das ist nämliche die frohe Kunde, daß es mir mit meiner wunderschönen Infusorienarbeit, d. h. der Erforschung der höchst merkwürdigen, radiären Rhizopoden, außerordentlich gut geht, und daß durch die glücklichen Entdeckungen der letzten Tage schon jetzt das Zustandekommen eines hübschen Werkchens darüber gesichert erscheint. Da das Feld noch relativ sehr neu, nämlich durch Ehrenberg und Johannes Müller im Lauf der letzten Jahre entdeckt ist, so gibt es noch ungemein viel zu tun, und ein fleißiger und genauer Beobachter kann noch viele interessante Aufschlüsse bringen. Der unerschöpfliche Reichtum der schönsten zierlichen Formen und Gestalten, den die schöpferische Natur in der Erfindung dieser reizendsten Tierchen mit ihren glashellen, netzig durchbrochenen Kieselpanzern an den Tag legt, ist selbst für den eingeweihten Naturforscher überraschend, und ich erstaune jeden Morgen von neuem darüber. Daß ich denn mit wahrer Leidenschaft mich auf diese herrlichen Schätze stürze, die zugleich das ästhetisch künstlerische Auge wohltuend befriedigen und reizen, kannst Du Dir denken. Ja, das Interesse dafür droht so überwiegend und ausschließlich zu werden, daß selbst meine neuentdeckten, interessanten Krebschen, deren Zahl noch um eins gewachsen ist, jetzt kaum mehr daneben angesehen werden. Ein glücklicher Zufall leitete mich schon von Anfang meines Hierseins an auf diese merkwürdigen Kieseltierchen, die an der Grenze tierischen Lebens stehen; aber erst die prächtigen, überraschenden Entdeckungen der letzten Tage, wo cih nicht allein mehrere neue Arten, sondern auch ein paar sehr schöne, neue Gattungen fand, haben mich definitiv bestimmt, alle meine Kräfte auf diese eine große Arbeit zu konzentrieren, welche mir aus vielen Gründen grade für meine Individualität besonders geeignet scheint. Endlich also scheinen einmal meine Hoffnungen erfüllt und meine redlichen Anstrengungen belohnt werden zu sollen! Eine hübsche Arbeit mit sorgfältig benutzten neuen Tatsachen, die mir hoffentlich einigen Ruf (vielleicht auch in der Folge einen Ruf! -) bringen wird, scheint jetzt gesichert. Was sich daran gleich unmittelbar für eine Reihe weiterer Hoffnungen und Wünsche knüpft, weißt Du ja am besten! Der völlige Besitz und das stets innige und selige Beisammensein mit dem liebsten, besten Mädchen sind ja doch jetzt das stetige Endziel aller möglichen Zukunftsgedanken. Du kannst Dir also denken, wie glücklich ich jetzt bin und mit wie viel mehr Lust und wirklichen Genuß ich die Arbeit jetzt treibe als früher . . . Sei recht vergnügt am schönen Weihnachtsfest in unserem trauten Familienkreis und nimm Dir dazu den innigsten Kuß

von Deinem treuen Erni.


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999