Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 26. 11. 1859

Brief Nr. 54

. . . Die Abende, sonst die liebste, sind mir in diesem Winter grade die schwerste Zeit, und sobald die Sonne ihre letzten Strahlen auf die kalabrischen Gebirge versendet, fange ich mich ordentlich an davor zu fürchten. Der Tag verschwindet bei der steten, ununterbrochenen und höchst interessanten Arbeit so schnell, daß ich mich immer höchstlich wundere, wenn mich mein Stubennachbar um 5 Uhr zum Essen ruft. Aber mit den Abenden ist das anders! Da tritt das Gemüt, das den Tag über bei der Verstandesbeschäftigung still geschwiegen und sich ganz geduckt hat, in sein volles Recht. Und auf diesem vollen Rechte besteht das eigensinnige Ding so fest, daß es sich auch nicht ein Härchen davon abtrotzen läßt! Umsonst predigt allabendlich der Verstand: "Sieh, diese schöne Arbeitszeit von 6-12 Uhr, das sind sechs ganze Stunden; was kann man da alles leisten!" Da kommt aber immer und ewig wieder das dumme Herz gelaufen und schwatzt mir von meiner Allerliebsten und von den Lieben allen im trauten deutschen Norden so viel vor, daß der Verstand gar nicht zu Wort kommt, und besonders wenn der Ideengang dann erst auf die süßen Freuden des hoffnungsreichen nächsten Jahres kommt, so kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mir das lebhaft und ausführlich auszudenken, und dann nehme ich wieder die alten Briefe vor und lasse die lieben Gedanken so innig auf mich wirken - so sind mir schon viele Abende vergangen, ohne daß ich zu der beabsichtigten Arbeit gekommen wäre; das muß jetzt anders werden, und ich werde mich ernstlich zusammennehmen, der unbändigen Phantasie, die jetzt den Südsturm nach Norden begleitet, die Flügel zu binden und die schöne Zeit die mir diese langen Winterabende bieten, ordentlich zu reicher, befriedigender Arbeit zu verwenden.

Dazu kommt nun, daß der Körper, der tags über so fein stillsitzen gelernt hat, hinter dem Mikroskop, abends auch sich regt und die des langen Wanderns gewohnten Beine, die dies beständige Stillsitzen jetzt recht sonderbar finden, auch Einspruch erheben. Da hilft denn oft nichts, als daß ich, gewöhnlich nach dem Essen, um 6 oder 7 Uhr meine Joppe anziehe, die Mütze aufsetze und die vier Treppen in raschen Sprüngen hinabeile, dann ein paarmal am Hafen längs der Palazzata auf und ab laufe und, um meine Spring- und Turnkünste nicht ganz zu verlernen, über die reihenweis daliegenden Ölfässer und Orangenkisten hinwegsetze, bis ich atemlos am Ende angelangt bin und micht auf dem letzten niedersetze und mich etwas ausruhe, wobei ich mir von den plaudernden Wellen, die an die niedere Hafenmauer anschäumen, Grüße aus dem Norden von meinem besten Schatze und den lieben Eltern und Freunden erzählen lasse. Meist weht mich dann die herrliche frische Seeluft so lockend an, daß ich noch bis an das Ende des Hafens laufe und zu dem Stadttor hinaus auf einen nahen, kleinen Hügel, von wo man die ganze freie Aussicht noch dem Norden, wie von meinem Fenster, hat. Oft bleibe ich dort träumend noch eine viertel oder eine halbe Stunde sitzen, besonders wenn der Mond schön über Kalabrien aufgestiegen ist und nun mit seinem zauberischen Licht weithin die zackige, langgestreckte Küste beleuchtet. Dann sitzt aber nur der Körper tot da, denn der Geist ist schon längst mir dem pfeilschnellen Wind über die schäumende, dunkle Flut hinweggeeilt und weilt fern, fern in dem lieben, treuen Nord, "wo er seinen Efeu findet, am alten bekannten Ort!" Da sitze ich mit Euch zusammen in dem warmen Stübchen bei der freundlichen Lampe und erzähle Euch in Gedanken schön jetzt von all den reichen Erlebnissen der herrlichen Reise, die auf lange Jahre Stoff zu den nettesten Plaudereien bieten wird. Es geht mir umgekehrt wie den Zugvögeln, die der Eintritt des Herbstes instinktmäßig nach Süden treibt; ich möchte jetzt ebenso nach dem schneeigen Norden eilen, wo doch allein meine wahre Heimat ist.

Ganz besonders viel war ich am 22. 11. an des lieben Vaters Geburtstag bei Euch, wo mancherlei zusammenkam, mich recht sehnsüchtig zu stimmen. Früh, als ich aus dem Bett sprang, wurde ich überrascht durch wahrhaft nordisch eisige Morgenluft, die köstlich kühlend zu dem stets offnen Fenster hereindrang, und mein erster Blick aus dem Fenster fiel wie immer auf den schnurgrad mir gegenüberliegenden Mont` aspero ("der rauhe Berg"), den höchsten der langgliedrigen Bergkette Kalabriens. Zu meiner größten Überraschung lag der herrliche hohe Bursch (ich glaub` er hat mindestens 6000 Fuß), der 10 Tage lang ganz in Wolken und Nebel versteckt gewesen war, nun sich diese zerstreut hatten, auf einmal im schmucksten, weißen, nordischen Schneekleid vor mir. Das machte mir noch viel mehr Heimweh, als der plötzliche Einzug des Winters vorige Woche, der mit solche Freude und Sehnsucht zugleich erweckte, daß ich im heftigsten Sturm und Regen an den Hafen hinunterlief und in die Wellen sprang, von denen ich mich recht tüchtig schütteln und umbrausen ließ. Solch nordisch schäumendes, wildes Morgenbad ist noch der Mühe wert und erfreut mich jetzt noch fast jeden Morgen. Es macht micht immer so frisch und warm, daß ich mit doppelter Lust und Frische an die Arbeit gehe. Die lieben Alten brauchen übrigens nicht zu fürchten, daß mir das fortgesetzte Baden schädlich sein könnte. Ich werde dadurch nur immer frischer und kerngesünder, falls das überhaupt möglich wäre. Nach der Meinung der feigen, verweichlichten Italiener müßte ich mich freilich längst totgebadet haben; nach ihrer Ansicht darf man höchstens 20-30 Bäder im Jahr nehmen, und nur im Juli bis August!! Daher denn auch der "causo" (Dialekt statt: "caldo", heiß) Tedesco alle Morgen Gegenstand höchster Verwunderung aller marinari, die jetzt um keinen Preis mehr ins Wasser gehen würden; außerdem herrscht hier ebenso wie in Neapel noch das besondere lächerliche und unsinnige Vorurteil, daß Regenzumischung das Seewaser in einem fast giftigen Grade schädlich macht. Daher werden denn auch alljährlich sofort nach Eintritt des ersten Regens, wäre es auch erst im Anfang der Badesaison, sofort alle Badeanstalten abgebrochen.

Die wundervollen Farbenspiele der herrlichen Gebirgsumgebung Messinas scheinen im Winter übrigens fast noch schöner als im Sommer. Wenigstens habe ich in der letzten Woche öfters die kalabrische Küste in einem so wundervollen Blau schimmern sehen, daß ich kaum je eine schönere Bergfarbe gesehen zu haben meinte. Sei es nun, daß Blau als Farbe der Treue die Sehnsucht und das Heimweh besonders anregt, oder daß das ferne Unbestimmte, das schattenhaft Verschleierte, das darin liegt und wobei der Phantasie der freieste Spielraum zum Ausmalen alles Dahintersteckenden bleibt, das Gemüt besonders zum Träumen anregt - mich zogen aber jene blauen Berge jetzt mehrmals so gewaltig an, daß ich vom Mikroskop weg ans Fenster trat und meine Augen lange auf dem köstlichen Wunderbild ruhen ließ . . . . Der Wechsel in der Pracht der Farben, in denen Meer und Küste hier beständig schillern, ist wirklich wunderbar schön und lockt oft genug verstohlene Blicke über das Mikroskop weg, und das will gewiß doppelt viel sagen, als ich jetzt durch den überreichen Genuß der höchsten Naturschönheiten des Südens, deren Fülle mich in Neapel und Palermo verwöhnte, fast übersättigt bin. Kein Pinsel würde hinreichen, um diese Luftstimmungen und Bergtöne in dieser Feinheit und Zartheit der Nuancierungen nur einigermaßen getreu wiederzugeben. Und ich genieße das alles aus meinem hohen luftigen Nest so bequem und beständig, daß ich mir keinen besseren Aufenthalt in dieser Beziehung wünschen könnte und gar nicht das Bedürfnis fühle, der Aussicht halber noch höhere Punkte zu ersteigen . . .

Das Material ist auch in dieser Woche so reichlich wie immer geflossen und hat mir für die gleich anfangs als Hauptaufgabe angefangene Untersuchungsreihe über radiäre Rhizopoden (die bisher fast nur durch Johannes Müller aus den letzten Jahren bekannten Infusorien) einige hübsche Tatsachen geliefert, wie ich denn für diese jetzt ziemlich hübsche Resultate hoffe. Eine ganz besondere und außerordentliche Freude hat mir aber des lieben Vaters Geburtstag gebracht. Es war früh sehr ruhiges Meer, und der wechselnde, periodische Strom (corrente oder rema genannt), der den deutschen Zoologen in Meesina stets so viel Glück gebracht hat, führte solche massenhafte Tierschwärme in den Hafen, daß ich in kurzer Zeit alle Gläser voll der herrlichsten Sachen hatte, meist vollkommen durchsichtige Tierchen, wie feine Glasblättchen von ein halb Linie bis 2 Zoll Länge, so wasserklar, daß jeder Blick durch das Mikroskop die überraschendsten Einblicke in ihre ganze Organisation erlaubt. Unter diesen entdeckte ich ein wunderschönes Krebschen aus der Ordnung der Amphipoden, welche so interessante Strukturverhältnisse zeigt, daß es nicht nur der Repräsentant einer ganz neuen Art und Gattung, sondern sogar Familie sein wird, und was das beste ist, ich glaube ganz sicher sein zu können, daß es bisher von keinem Naturforscher gesehen oder wenigstens beschrieben worden ist. Das soll einmal eine nette Abhandlung werden! Ich habe natürlich eifrigst weiter danach gefischt und noch zwei ganz gleiche Exemplare aufgetrieben. Du kannst Dir denken, wie ich da hinter dem Mikroskop gesessen und mit dem Prisma gezeichnet habe, bis mir, als es abends dunkel zu werden anfing, die Augen vor Ermüdung zitterten und zwinkerten, und als es am zweiten Tag so von früh bis abends fortging, zuletzt bald gar nicht mehr sehen wollten, oder vielmehr alles doppelt sahen. Wenn ich nur noch mehr von dem herrlichen Fund auftreibe! Das war mir eine recht erfrischende Herzstärkung und doppelt wert, in dem erdrückenden Gefühl meiner Ohnmacht gegenüber der ungeheuren Fülle des Materials, die mich täglich überschüttet und in der ich zuletzt mit der Orientierung fast allen Mut verlor. Doch war es auch ganz gerecht, daß meine Anstrengungen einmal so gekrönt wurden, und die liebe Mutter Natur durfte mir schon mit Recht einmal besonders gnädig sein. Weihe ich doch ihrem Dienste alles! Ich glaube wenigstens kaum, daß man ununterbrochener hier arbeiten kann, als ich jetzt es tue; Abwechslung und Zerstreuung existiert gar nicht, und Sonntags wie wochentags geht es in ganz gleicher Weise von früh bis zum Abend fort - der beste Maßstab dafür ist vielleicht, daß nicht einmal die notwendigen Retuschen an den letzten Aquarellen von der sizilischen Reise gemacht sind. Der Ernst muß einmal - wie Vater voriges Jahr mal halb scherzhaft, halb ärgerlich äußerte - "alles extrem tun": er muß extrem (d. h. ganz) arbeiten, lieben, malen, schwimmen, bergklettern, hoffen, zweifeln usw. usw. Will der ermüdete Sinn einmal Erholung, so wird er auf das köstliche kommende Frühjahr vertröstet, und allein der Gedanke daran erfrischt ihn so, daß er mit erneuter Kraft weiterarbeitet. Möge mir das Glück nur so weiter günstig bleiben! . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999