Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 19. 11. 1859

Brief Nr. 53

Der volle erste Monat des schweren Messinawinters ist nun glücklich vollendet, mein liebstes Schatzchen, und zwar viel rascher, leichter und glücklicher, als ich erwartet hatte. Verfliegen die folgenden in demselben Verhältnisse, so wird der böse Winter, vor dem ich mich so sehr fürchtete, trotz der immer wachsenden Ungeduld und Sehnsucht noch leidlich rasch vorbei sein. Und noch dazu werden die jetzt kommenden Monate, was die Arbeit betrifft, die jan nun glücklich im vollen Gange ist, mir gewiß leich


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ter werden. Der erste Anfang bleibt ja immer das Schwerste und ganz besonders bei einem solchen Unternehmen, wo anfangs so viel einzurichten und zu besorgen ist. Nun ich jetzt glücklich im Zuge bin, kann ich dem weiteren Verlauf schon mit viel mehr Ruhe entgegensehen. Besonders gilt dies bezüglich des Materials, welches mir, auch trotz des seit 8 Tagen eingetretenen schlechten Wetters, das sonst alle Tierchen in die Tiefe oder aufs hohe Meer hinaus verscheucht, immer noch täglich so reichlich zufließt, daß ich täglich von neuem darüber erstaune. Das wäre ganz herrlich! Wäre nur auch meine Arbeit dem einigermaßen entsprechend! Hätte ich ein bißchen, d. h. eine ganz gehörige Quantität mehr von Verstand und von Geschick besonders, so ließe sich mit diesem ausgezeichnet reichen und schönen Stoff, wie man ihn sich kaum besser wünschen kann, gewiß Ausgezeichnetes leisten. Allein, je mehr ich die Größe der herrliche Aufgabe erkenne, die hier dem Naturforscher offenliegt, desto mehr fühle ich zugleich das gänzlich Unzureichende meiner schwachen Kräfte. Und so wird wohl der Fluch der Mittelmäßigkeit, der alle meine Leistungen nicht das Gebiet des Dürftigen und Alltäglichen überschreiten läßt, auch diese, obwohl mit möglichstem Fleiß und Ausdauer unternommenen Arbeiten und die daraus entspringenden Resultate nicht verlassen. Eben dieses Mißverhältnis zwischen dem klaren Bewußtsein, mit dem ich Umfang und Gewicht der herrlichen Riesenaufgabe vollkommen zu erkennen glaube, und nun andererseits der schwachen, dürftigen Anlagen und Kräfte, mit denen ich ihr gegenübergestellt bin - oder vielmehr weit unter ihnen stehe -, eben das ist es, was mir immer die an sich so herrliche, des besten Menschenlebens würdige Wissenschaft in einem so traurigen, ja feindlichen Lichte erscheinen läßt, daß die Freude, die ich an der Arbeit habe, immer sehr dadurch getrübt wird. Wie übeaus schön und herrlich sind alle diese kleinsten Arbeiten der Natur, wenn man sie bloß anstaunen und bewundern darf; soll man sie aber verstehen und erklären, so gibt das Bewußtsein der gänzlichen Ungenügendheit des menschlichen Geistes dieser kindlichen Freude einen so bittern Beigeschmack, daß der ewig in demselben schlummernde Zwiespalt dadurch nur wieder neu angeregt wird. Grade hier ist gewiß der Künstler viel glücklicher als der Naturforscher, da seinem Streben keine so ernste und bestimmte Aufgabe vorliegt, da sich an diese überhaupt kein so allgemein gültiger Maßstab anlegen läßt. Er ist eben von seiner Leistung befriedigt, sobald sie den willkürlichen Anforderungen seiner subjektiven Phantasie genügen und kann dann ruhig das Urteil anderer ignorieren. Dagegen kennt der Naturforscher genau den Maßstab der objektiven Naturwahrheit, der an seine Arbeiten gelegt wird, und weiß also selbst bei jeder, wie weit hinter deren wirklicher Erkenntnis er zurückbleibt und wie annähernd nur die Resultate befriedigen. -

Das muß ich mir selbst täglich so oft sagen und so oft sheen, wie alle angewandte Mühe der Erkenntnis doch nur zu sehr zweifelhaften, wo nicht gar negativen Resultaten führt, daß die große Freude, welche ich während des Anschauens dieser herrlichen Naturwunder und während des Eindringens in ihr Verständnis genieße, schließlich dadurch immer sehr traurig herabgestimmt wird. -

Seit 8 Tagen ist nun auch hier der Winter, d. h. die Regenzeit, eingezogen, und seitdem regnet und stürmt es so beständig und heftig, daß unser deutscher Norden sich dieses Wetters nicht zu schämen brauchte. Wahrscheinlich werdet Ihr infolgedessen auch meine beiden letzten Briefe, die beide zu Vaters Geburtstag bestimmt waren, später als gewöhnlich erhalten haben. Wenigstens kam der Vapore, der sie mit nach Marseille nahm, einen Tag später hier an, da er mit dem heftigsten Sturm so arg zu kämpfen gehabt hatte, daß er seinem Untergang nahe war . . .

Das Ankommen und Abgehen der Dampfer (fast jeden Tag kommen mehrere) ist natürlich als einziges Verbindungsmittel hier immer der allgemeine Gegenstand reger Teilnahme, und wir haben von unserm hohen Standpunkt aus das besondere Vergnügen, sie immer schon aus weiter Ferne von beiden Seiten der Meerenge herankommen zu sehen, wie wir denn überhaupt den trefflichsten Anblick des wunderschönen Hafens aus der Vogelperspektive genießen. Das ist ein ewig wechselndes Bild interessantesten Lebens uns Verkehrs, welche meine Blicke oft vom Mikroskop ab durch das Fenster herauslenkt. Vorige Woche lag grade meinem Fenster gegenüber der "Macedonian", die schlanke, saubere, amerikanische Kriegsfregatte, die diesen Sommer auch alnge in Neapel lag. Besonders interessant wurde der Anblick des Hafens und der See Ende voriger Woche beim Eintritt des Winters. Abwechslung macht einmal allein das menschliche Leben schmackhaft, und so erschien mir denn auch der graue schwere Regenhimmel und die grüne wogende See außerordentlich schön nach dem ewigen blauen, einfarbig reinen Spiegel, den Himmel und Meer in den letzten 6 Monaten ununterbrochen dargestellt hatten und der zuletzt mit seiner ewigen, ungetrübten, dunkeln Bläue und Glätte wirklich langweilig wurde. Allerdings mögen dabei die nordischen Reminiszenzen wohl sehr im Spiele gewesen sein; wenigstens versetzten mich die ersten Wintertage, als der wilde, frische Sturm von Norden angesaust kam, die Gebirge rings in dichte, graue Wolkenmäntel hüllte und die fliegende See in mächtigen Berg- und Talwellen vor sich hertrieb, lebhaft nach Helgoland, und den ersten Morgen stand ich fast immer am Fenster und sah dem wechselnden Spiel des wilden Windes und der schäumenden Wogen zu, wobei die Gedanken danz im Norden weilten. Sprang auch abends mit wahrer Lust hinunter in den Regen, lief ein paarmal am Hafen auf und ab und ließ mich recht durchnässen, ein lang entbehrtes Vergnügen! Das Heimweh war aber in diesen Tagen besonders stark! Recht lebhaft wird es auch immer angeregt durch die deutschen und englischen Schiffe, die nach Norden abgehen und denen ich immer viele tausend Grüße mitgebe! - . . .


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